„Internationale Brigaden bauen Gesundheitszentrum in Kobane“ – Bericht von Aufbauhelfer Wilhelm Maier aus Schwäbisch Hall

Vor einigen Tagen ist Wilhelm Maier aus Schwäbisch Hall von einem vierwöchigen humanitären Einsatz in Kobane (Rojava, Nordsyrien) zurück gekehrt. In Hohenlohe-ungefiltert berichtet er von seiner Arbeit in der stark  zerstörten Stadt im Norden Syriens.

Von Wilhelm Maier, Schwäbisch Hall

Vom IS befreit

Wie viele von euch sicher wissen, haben die syrisch-kurdischen Selbstverteidigungskräfte den Angriffen des IS getrotzt und große Gebiete Rojavas befreit. Die Stadt Kobane wurde Ende Januar 2015 vom IS befreit. Die Stadt ist zu 80 Prozent zerstört, das Leben kehrt aber inzwischen wieder zurück.

Arztpraxen, OP-Saal, Apotheke, Krankenzimmer, Röntgenraum

Insgesamt 170 Freiwillige aus zehn Ländern, sie nennen sich internationale Brigaden, arbeiten von Juni bis Dezember 2015 an dem Projekt – gemeinsam mit der dortigen Bevölkerung, damit es Mitte Dezember in Betrieb gehen kann. Ich war Mitglied der 6. Brigade. Das Gesundheitszentrum wird mehrere Arztpraxen, einen Operationssaal, eine Apotheke, Krankenzimmer, einen Röntgenraum und vieles mehr umfassen. Eine große Rolle spielt die Ausbildung von Krankenschwestern und -pflegern, die dann hinaus aufs Land gehen können und manche Krankheiten selbst behandeln können. Das Gebäude umfasst 600 Quadratmeter Nutzfläche und ist einstöckig gebaut, mit der Option für einen zweiten Stock.

Lehmziegel selbst hergestellt

Ich fühlte mich als Rentner noch fit genug, um vor Ort anzupacken. Die beschwerliche Reise nach Syrien habe ich gerne auf mich genommen, um humanitäre Hilfe zu leisten. Ich war vier Wochen dort. Wir fanden einen Rohbau aus Beton und Hohlblocksteinen vor. Wir sind ein gutes Stück vorangekommen. Wir fertigten selbst nach altem Rezept Tausende von Lehmziegelsteinen, mit denen eine weitere Mauer ringsum gebaut wurde, um dann den Zwischenraum als Wärme- und Kälteisolation mit Stroh zu verfüllen. Wir verlegten Wasserleitungen, Stromleitungen, bauten Fenster ein….

Manche nennen es Revolution

Mit dem Bau des Gesundheitszentrums wollen wir die dortige Bevölkerung, in erster Linie Kurden, unterstützen. Ich finde, es ist ein gutes Beispiel, wie man Fluchtursachen bekämpfen kann. Immerhin sind seit Ende Januar 2015, als der IS aus Kobane vertrieben wurde, schon 175000 Flüchtlinge in ihre Heimatstadt zurück gekehrt. In ihrer Provinz Rojava bauen sie gerade ein neues demokratisches Gemeinwesen auf. Kurden, Assyrer, Jeziden und andere Völker, alle Religionen leben gleichberechtigt und friedlich zusammen. Männer und Frauen haben die gleichen Rechte – nicht nur auf dem Papier. Manche nennen es Revolution.

Türkische Regierung blockiert Grenze für Hilfsgüter und Aufbauhelfer

Ich habe mir selbst ein Bild machen können, wie sich die politische und soziale Lage vor Ort darstellt. Mich hat vor allem die große Gastfreundschaft und Herzlichkeit überrascht, die uns dort entgegen schlug. Das Los der dortigen Bevölkerung ist nicht einfach. 80 Prozent der Häuser sind zerstört, aber der Elan der Bevölkerung, wie sie den Schutt wegräumt und die Häuser wieder aufbaut, ist bewundernswert. Leider wurden uns seit Juni viele große Steine in den Weg gelegt. Der normale Weg geht über die Türkei. Die türkische Regierung blockiert aber die Grenze für Hilfsgüter und Aufbauhelfer. Nach internationalem Völkerrecht müsste sie dafür einen humanitären Korridor garantieren. So mussten die Aufbauhelfer bis Oktober illegal die Grenze nach Kobane passieren, ebenso Material und Werkzeug. Noch immer befinden sich 16 Tonnen Werkzeug, Material und Medikamente auf LKWs in der Türkei.
Da die Türkei die Kontrollen immer weiter verschärft hat, versuchten wir den Weg über den Irak. Wir flogen nach Sulaimaniyah im kurdischen Teil des Irak. Sechs Tage lang saßen wir dann im Hotel fest, weil die Regionalregierung Barzani uns keine Ausreiseerlaubnis nach Kobane gab. Sie arbeitet mit der türkischen Regierung zusammen. Als es dann geklappt hat, lagen noch 1100 Kilometer Straße vor uns bis Kobane.

ICOR-Solidaritätsbrigaden gingen wieder an die Arbeit

Offizieller Träger des Projekts ist der „Solidaritäts- und Förderverein Gesundheitszentrum Kobane“. Initiiert wurde es  von der „Internationalen Koordinierung revolutionärer Parteien und Organisationen“ (ICOR). Der Verein ist als humanitäre Katastrophenhilfe-Nichtregierungsorganisation unter anderem auch beim Internationalen Roten Kreuz registriert. Die deutsche Vertreterin der ICOR ist die MLPD. Sowohl der Solidaritäts- und Förderverein Gesundheitszentrum Kobane, als auch die ICOR arbeiten eng mit kurdischen Institutionen und der PYD (Partei der demokratischen Union) in der nordsyrischen selbstverwalteten Region Rojava zusammen. Nach dem verheerenden Anschlag im Juni 2015 durch den IS sind alle ausländischen Hilfsorganisationen abgereist und nicht wieder zurück gekommen. Nur die ICOR-Solidaritätsbrigaden gingen nach einer Woche wieder an die Arbeit, und für ihren Schutz wurde bestens gesorgt.

Veranstaltung in Schwäbisch Hall:

Im Zusammenhang mit dem Aufbau des Gesundheitszentrums Kobane möchte ich die Leser auf eine Veranstaltung aufmerksam machen, die am Donnerstag, 10. Dezember 2015, in der Freischwimmerei in Schwäbisch Hall, Auwiesenstraße 3, stattfindet. Dort werde ich über das Aufbauprojekt „Gesundheitszentrum Kobane“ berichten und auch Fotos sowie Filme zeigen. Für das leibliche Wohl ist mit kurdischem Büfett gesorgt. Wer will, kann mit dem Kauf von Tüchern aus Kobane auch das Projekt unterstützen. Einlass ist um 18 Uhr, das Programm beginnt um 19.30 Uhr.

Religionsfreiheit und Gleichberechtigung

Die Bevölkerung baut ein neues Gemeinwesen auf, ein Vorbild für den ganzen Nahen und Mittleren Osten. Kurden, Araber, christliche Asyrer, Jeziden und andere Völker leben gleichberechtigt und friedlich zusammen. Es gelten Religionsfreiheit und gleiche Rechte für Männer und Frauen – nicht nur auf dem Papier. Viele sprechen von Revolution. Diese Menschen brauchen unsere Solidarität. Im Frühjahr hat die ICOR (International Coordination of Revolutianary Partys and Organisations), in Deutschland die MLPD, beschlossen, in Kobane ein Gesundheitszentrum aufzubauen. 170 Freiwillige aus zehn Ländern haben es nun zusammen mit der dortigen Bevölkerung gebaut, und es geht seiner Fertigstellung entgegen. Am 20. November 2015 wurden in einem feierlichen Festakt mit großer Beteiligung der Bevölkerung die Schlüssel an die Selbstverwaltung von Kobane übergeben. Seit Ende Januar sind 175000 Flüchtlinge wieder nach Kobane zurück gekehrt. Wir feiern in Schwäbisch Hall den Erfolg des Projekts mit Bildern, Filmen, Vortrag und Spendensammlung.

Kurzinformation:

Gesundheitszentrum Kobane, Veranstaltung am Donnerstag, 10. Dezember 2015, in der Freischwimmerei in Schwäbisch Hall, Auwiesenstraße 3. Einlass ist um 18 Uhr, das Programm beginnt um 19.30 Uhr.

   Sende Artikel als PDF   

„Mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes begeht Frankreich einen Fehler“ – Kritischer Artikel in der Zeitung Le Monde

„Mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes begeht Frankreich einen Fehler“ lautet das Fazit eines Artikels von Gilbert Achcar in der französischen Zeitung Le Monde vom 26. November 2015. Achcar ist Professor an der SOAS (Hochschule für orientalische und afrikanische Studien) der Universität London.

Informationen zugesandt von Paul Michel, Schwäbisch Hall

Übersetzung von Paul B. Kleiser:

Der Kriegsdiskurs des französischen Präsidenten zielt darauf ab, diese Maßnahme zur Norm zu machen. Ein strategischer Irrtum, verbunden mit einem politischen Fehler, der das Risiko des Terrorismus weiter anwachsen lässt.

Artikel von Gilbert Achcar in Le Monde vom 26. November 2015

Verheerende Bilanz

François Hollande hat auf die Schmach des Terrorismus, der neuerlich im Herzen von Paris zugeschlagen hat, mit einer „Kriegserklärung“ reagiert – so wie dies George W. Bush angesichts der „Mutter aller terroristischen Attentate“ mitten in New York gemacht hat. Dadurch hat sich der französische Präsident bewusst über die Kritik an der Entscheidung der Bush-Administration hinweggesetzt, die zur damaligen Zeit die vorherrschende Meinung sogar in Frankreich gewesen ist (und auch von den früheren Außenministern Hubert Védrine und Dominique de Villepin geteilt wurde). Er hat dies trotz der verheerenden Bilanz des „Krieges gegen den Terrorismus“ der Bush-Administration getan, die diese Kritik vollumfänglich bestätigt hat.

Verbale Überreaktion

Sigmar Gabriel, der deutsche Vizekanzler und Vorsitzende der SPD, der Bruderpartei der französischen PS, hat erklärt, von Krieg zu sprechen hieße das Spiel des Islamischen Staates (Daesh) zu betreiben. Zunächst könnte es scheinen, dass der Kriegsdiskurs nur eine verbale Überreaktion darstellt, eine Art, auf die legitime Emotion zu reagieren, die das abscheuliche Attentat mit bislang 130 Toten hervorgerufen hat. Doch wird der Kriegsdiskurs von der Durchsetzung eines Gesetzes durch François Hollande begleitet, das den Ausnahmezustand auf drei Monate verlängert.

Freifahrtscheine für die Repressionskräfte

Der Präsident möchte außerdem die französische Verfassung ändern, um die Ausnahmen von den demokratischen Regelungen auszuweiten, obwohl es sich um eine Verfassung handelt, die 1958 in einer Situation des Ausnahmezustandes entstanden ist. Sie sieht bereits die Möglichkeit des Ausnahmezustandes (Art. 16) und des Belagerungszustandes (Art. 36) vor. Nun werden schlimmste Verletzungen der Menschenrechte möglich: der Entzug der Staatsbürgerschaft, die Haft ohne Anklage sowie weitere Freifahrtscheine für die Repressionskräfte.

Pentagon ist brutalster aller Massenmörder

Was aber noch schlimmer ist: Im Gegensatz zu den Attentaten in New York wurden diejenigen im Januar und November 2015 in Paris von französischen StaatsbürgerInnen begangen (deswegen die Drohung mit dem Entzug der Nationalität). Während der Kriegszustand seinem Wesen nach per se ein Ausnahmezustand ist, also ein Zustand der Aufhebung der Rechte der menschlichen Person, gibt es einen qualitativen Unterschied in den Konsequenzen, je nachdem ob der Krieg außerhalb des nationalen Territoriums stattfindet, oder ob sich der potenzielle Feind im Lande selbst befindet. Die USA konnten die Ausübung der – abgebauten – Bürgerrechte dem Grunde nach wiederherstellen, nachdem die Sicherheit ihres Territoriums neuerlich gegeben war, wohingegen sie den Ausnahmezustand im Ausland praktizierten und dies weiterhin tun. Die ganze Heuchelei von der Aufrechterhaltung des juristischen Niemandslandes Guantanamo bis zu den extralegalen Hinrichtungen durch Drohnen macht aus dem Pentagon den brutalsten aller Massenmörder.

Totalitärer Charakter

Aber Frankreich? Das Problem des Dschihad gehört zu seiner Geschichte. Und dies so sehr, dass die erste Konfrontation mit dem Dschihad auf die blutige Eroberung Algeriens durch die französische Armee vor bald zweihundert Jahren zurückreicht, auch wenn der Dschihad von heute sich qualitativ vom früheren durch seinen totalitären Charakter unterscheidet. Sodann war der französische Militär- und Sicherheitsapparat mit der algerischen FLN (nationale Befreiungsfront) konfrontiert, deren Zeitung El Moudjahid („der Dschihadist“) hieß.

Übersteigerter Groll 

Frankreich hat, als es sich ab 1955 auf diesen dreckigen Krieg einließ, ein Gesetz über den Ausnahmezustand erlassen. Und unter den Bedingungen des Algerienkrieges wurde der Ausnahmezustand zum letzten Mal vor dem 14. November 2015 in den Jahren 1961 bis 1963 auf dem gesamten Staatsgebiet verkündet. Im Rahmen jenes Ausnahmezustandes wurden auf französischem Boden schlimme Untaten verübt, neben den Verbrechen, die in Algerien massenhaft geschahen. Der Ausnahmezustand wurde am 8. November 2005, also fast genau vor zehn Jahren, für einen Teil Frankreichs neuerlich ausgerufen. Die Beziehung zum Algerienkrieg ist damals niemandem entgangen: Ein Großteil der jungen Leute, die sich an den Aufständen der Vorstädte beteiligt haben, waren „Produkte“ der langen französischen Kolonialgeschichte in Afrika. Dies trifft genauso auf den größten Teil der französischen Dschihadisten der letzten Jahre zu, die unter den Bedingungen des zunehmenden Grolls und der Hoffnungen auf die dann enttäuschten Versprechungen aufgewachsen sind, der 2005 seinen Ausbruch fand. Es handelt sich um diejenigen, die unter dem leiden, was kein geringerer als Ministerpräsident Manuel Valls in einem flüchtigen Moment politischer Einsicht am 20. Januar 2015 „die territoriale, soziale und ethnische Apartheid“ genannt hat.

Kein Waffenverkauf an Saudi Arabien

Die logische Konsequenz dieses Eingeständnisses läge gerade in der Beendigung des territorialen, sozialen und ethnischen Ausschlusses der eingewanderten Teile der Bevölkerung und aller Diskriminierungen, die sie erleiden muss; dies wäre die erste Antwort auf die Gefahr des Terrorismus. Damit muss eine Außenpolitik einhergehen, die den Verkauf von Kanonen und das militärische Gehabe eines Staates, der sich als imperiale Macht ausgibt, durch eine Politik des Friedens, der Menschenrechte und der Entwicklung gemäß der Charta der UNO, die er mit verfasst hat, ersetzt. Der schwedi-
sche sozialdemokratische Außenminister, der den Verkauf von Waffen an das Königreich Saudi Arabien durch Händler seines Landes untersagt hat, hat den richtigen Weg aufgezeigt.

Frustrierte Hoffnungen des „Arabischen Frühlings“

Eine adäquate Antwort auf die Gefahr des Terrorismus läge auch in einer entschiedenen, aber nicht aufdringlichen Unterstützung aller Männer und Frauen, die im Nahen Osten und in Nordafrika gegen die Despoten der Region für Demokratie und Emanzipation kämpfen, gleichgültig ob es sich um Ölmonarchien oder Militär- oder Polizeidiktaturen handelt. Der „Arabische Frühling“ von 2011 hat für einige Zeit den dschihadistischen Terrorismus an den Rand gedrängt. Seine Niederlage unter Mithilfe der Großmächte hat, gestärkt durch die frustrierten Hoffnungen des „Frühlings“, zu seiner kraftvollen
Wiederauferstehung geführt.

   Sende Artikel als PDF