Zu einer Lesung, die sich vielmehr als ein lebendiger Vortag entpuppte, war Bremens langjähriger Senator und Bürgermeister Dr. Henning Scherf (SPD) vergangene Woche auf Einladung des Kirchenbezirks Blaufelden, des Evangelischen Kreisbildungswerks Schwäbisch Hall und des „Netzwerk Diakonie“ im Dekanat Blaufelden ins Spektrum nach Blaufelden gekommen. Scherf referierte zu seinem Buch: „Grau ist bunt“ über Lebensgestaltung und ein erfülltes, kreatives, selbstbestimmtes Leben im Alter.
Von Walter Leyh, Schrozberg
Jeden der 140 Besucher mit Handschlag begrüßt
Der offiziellen Begrüßung durch Bezirks-Diakoniepfarrer und stellvertretenden Dekan Bernhard Ritter (Wallhausen) und die Geschäftsführerin des Kreisbildungswerkes Birgit Schatz (Schwäbisch Hall) war Scherf bereits aufs herzlichste zuvor gekommen, indem er beim Reinkommen durch die Reihen ging und alle zirka 140 Besucher per Handschlag und mit ein paar persönlichen Worten begrüßte, er hat damit nicht nur die gespannte Aufmerksamkeit, sondern auch die Herzen der HohenloherInnen im Saal uneingeschränkt gewonnen. Er traf dabei auch auf alte Bekannte, so den ehemaligen Bundestagsabgeordneten Hermann Bachmaier, mit dem er in früheren Jahren politisch eng zusammen gearbeitet hatte – sind doch beide von Haus aus Juristen und Politiker durch und durch gewesen und das bleibt man irgendwie zeit seines Lebens.
Berühmteste Wohngemeinschaft Deutschland
Henning Scherf lebt seit 22 Jahren in der wohl „berühmtesten Wohngemeinschaft Deutschlands“, wie er selbst eingangs die Presse zitiert. Scherf und „seine Luise“, wie er seine Frau immer wieder liebe- und respektvoll erwähnt“, hatten sich nach dem Auszug der drei Kinder, als sie beide gerade mal Mitte vierzig waren, mit Freunden zusammen überlegt wie sie künftig – durchaus bis zum Alter und dem Tod – leben wollten. Schließlich wurde mit Freunden und Gleichgesinnten ein großes Haus mitten in Bremen gekauft, in dem seither gemeinschaftlich und generationenübergreifend gelebt wird. Scherf war 2005, nachdem er seit 1971 Abgeordneter im Bremer Senat, von 1978 bis 1995 Senator für verschiedene Ressorts und schließlich ab 1995 Bürgermeister war, von sich aus zurückgetreten, um Jüngeren Platz zu machen. Er wolle nicht „mit den Füßen voraus“ aus dem Rathaus getragen werden, teilte er damals mit und es gebe für ihn ein Leben nach und außerhalb der Politik.
Gibt es einen Krieg der Generationen?
Die als Lesung angekündigte Veranstaltung gestaltete Scherf als eine lebendige Erzählung. Er ging im Raum umher und sprach frei, dabei immer wieder auf Fragen aus dem Publikum eingehend.
Scherf bewegt die sich immer schneller und stärker verändernde Gesellschaft, der demografische Wandel: überall werden alle immer älter und wir werden immer mehr, in den Industrieländern herrscht zwar eine niedrige Geburtenrate vor, durch Zuwanderung nimmt aber auch hier die Bevölkerung zu. Ist das nun eine Katastrophe oder birgt diese Entwicklung Chancen? Frank Schirrmacher, einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) beschreibt das erstere in seinem Buch „Methusalem-Komplott“, darin befürchtet er den Ausbruch eines militanten Krieges der Generationen und erreichte mit diesem Buch eine hohe Auflage.
Bild-Chefredakteur hat destruktive Absichten
Daneben erwähnt er Kai Dieckmann, Chefreaktuer der Bild-Zeitung. Dieser beschreibt in seinem Buch „Der große Selbstbetrug“, dass alles im Umbruch (eher zum negativen) sei und die Alten die schlimmsten Schmarotzer der Gesellschaft seien. Diese Autoren bringen keine Aufklärung und Erklärung der eigentlichen Probleme und bieten keinerlei Lösungsvorschläge, sie hätten somit eher böse und destruktive Absichten, meint Scherf. Da möchte er mit seinem Schreiben und Tun dagegen halten. Niemand müsse sich entschuldigen dafür, dass er alt wird oder behindert ist, stellt Scherf klar.
Kinder brauchen auch männliche Bezugspersonen
Es müssen Lösungen auf die Fragen und Probleme gefunden werden die eine solche sich rapide verändernde Gesellschaft mit sich bringt. Scherf richtet den Blickwinkel rasch auf den Arbeitsmarkt und das Renteneintrittsalter. Damals als JUSO wollte auch er möglichst früh erreichen, raus aus dem Maloche-System zu kommen. Klar ist, dass ein Bergarbeiter oder Maurer nicht bis 67 arbeiten könne, unter anderen Ärzte aber durchaus. Das sei sogar wichtig und sinnvoll, denn es könne sehr hilfreich sein, wenn ein Arzt eine Familie über Generationen kenne und über Familienzusammenhänge Bescheid wisse. Auch Lehrer müssten nicht früher in Pension gehen, wenn es ihre Gesundheit zulässt. Auf den Wandel vom Lehrerüberschuss zum Lehrermangel in den letzten Jahren müsse schneller und effektiver reagiert werden, betont er. Das Angebot von Sabbattikals und Umstiegsmöglichkeiten zwischen den Schularten müsse ausgebaut werden. So könne erreicht werden, dass mehr Männer für die Grundschule und Berufe in der Elementarbildung gewonnen werden können. Kinder finden und haben heute oft keine männlichen Bezugspersonen und Vorbilder mehr, diese müssen aber im Interesse einer gesunden und ganzheitlich gelingenden Erziehung und Entwicklung unserer Kinder und damit unserer Gesellschaft organisiert werden.
In die Menschen investieren, sonst fehlen bald Fachkräfte
Senioren können in Schulen gehen. Scherf schildert lebhaft und begeistert wie er seine wöchentliche Lesestunden in der Schule erlebt, die er regelmäßig wahrnimmt und nicht missen möchte. So habe auch die Bremer Jakobs-Universität einen hohen Geldbetrag zur Verfügung gestellt, um der Frage nach zu gehen, wie dafür gesorgt werden kann, dass Menschen sich lebenslang qualifizieren können. Er fordert Investitionen von Betrieben in die lebenslange Fortbildung und die Schaffung altersgerechter Arbeitsplätze. So sein erstes von drei großen Themen des Vortragsabends. In Deutschland wurden in den vergangenen zwei Jahren trotz Krise die Mitarbeiter von den Betrieben weitgehend gehalten. Die Gewerkschaften, Konzernführungen und die Regierung arbeiteten – zumindest in Deutschland – eng zusammen, um die Krise zu bewältigen und zu mildern. Man muss in die Menschen investieren, fordert Scherf, sonst fehlen in Kürze Fachkräfte.
Die Gesellschaft lebt nicht nur von tariflich organisierter Arbeit sondern auch von freiwilliger Arbeit, so Scherfs zweites Thema. Als Kontrapunkt nennt er die Zustände in den postsozialistischen Staaten. Hier in Deutschland arbeiten Millionen ehrenamtlich aus Überzeugung für eine Sache und bestimmte Ziele. Selbstbetätigung sei multifunktional und für Körper und Geist sowie die gesamte Gesellschaft gut, zum Beispiel das Chorsingen.
Drohende Einsamkeit alter oder behinderter Menschen nicht nur den Profis überlassen
Scherf berichtet von der Freiwilligenagentur in Bremen, die es dort seit 1985 gibt und in der er mitarbeitet. Diese ging hervor aus den Sozialen Friedensdiensten, die 1980 zusammen mit Bremer Kirchengemeinden gegründet worden war. Es wurde dort rasch festgestellt, dass es ein Riesenfeld der sozialen Dienstleistungen und Hilfebedarfe gibt, vom Baby-Sitting bis zur Seniorenbetreuung. Gegenseitige Hilfestellungen können angeboten werden. Die drohende Einsamkeit alter oder behinderter Menschen soll nicht nur den Profis überlassen werden, es gilt auch eigene, persönliche und private Kompetenzen und Potentiale zu nutzen. So machen heute auch viele Sportvereine bereits ein umfassendes Angebot für Senioren.
Es gibt immer mehr Singles
„Wie wollen wir das Zusammenleben beim Älter-werden organisieren?“, fragt Scherf in seinem dritten thematischen Schwerpunkt. In der Regel sind Ältere, vor allem Frauen, irgendwann allein in ihrem Häuschen oder auf ihrem Hof, das geht nicht lange gut, irgendwann wird jemand zum Nachschauen und Helfen gebraucht. Bezeichnend ist, dass die Bevölkerungszahl schrumpft, die Zahl der Haushalte aber zunimmt. Es gibt immer mehr Singles. Es werden immer mehr Senioren-Wohnheime auf der grünen Wiese gebaut, nur manche sind integriert und gut. Manche sind aber regelrechte Pflegeindustriebetriebe mit weit über 500 Plätzen, die von Investoren als Gewinnbetrieb erstellt und geführt werden. In diesen Großbetrieben sterben oft die Hälfte der Neuzugänge innerhalb der ersten drei Wochen, weil sie beschließen zu sterben, anstatt in einem industriealisierten Betrieb täglich und nächtlich abgefertigt zu werden. Scherf hat eine Gesellschaft mitgegründet, um sich für eine wohnortnahe und integrierte Versorgung für ältere Menschen einzusetzen und diesen Industriebetrieben entgegen zu arbeiten. Es sollen keine neuen Heime mehr gebaut werden, die Pflegearbeit solle ambulant geleistet werden. Die zur Zeit viel zitierten generationenverbindenden Wohnformen seien keine Idee von Ursula von der Leyen, betont Scherf, diese haben vielmehr eine lange Geschichte.
Alte Menschen wollen keine Alten-Ghettos
Die Alten wollen nicht in Ruhe gelassen werden und für sich leben, sondern mitten im Leben bleiben mit Kindergarten und anderem in der Nachbarschaft, sie wollen keine Alten-Ghettos wie es sie beispielsweise in den USA gibt. Scherf kommt zurück auf seine ganz eigene Wohnform: Es wurden in den 22 Jahren des Bestehens dieser Wohngemeinschaft alle Probleme gemeinsam gelöst. Auch schwierige Dinge, wie zwei Sterbebegleitungen waren darunter, auch das wurde von der Gemeinschaft in einer guten Weise erlebt und bewältigt. Bei Gründung der WG sahen sich die Scherfs noch Vorwürfen der eigenen Kinder ausgesetzt und wurden als „postpubertäre Romantiker“ bezeichnet. Inzwischen suchen die Kinder nach ähnlichen Wohnformen, berichtet Scherf und sieht sich auf dem richtigen Weg, den er jederzeit wieder so gehen würde. Kaum ein Zuhörer wird wohl daran gezweifelt haben. Scherfs WG hat inzwischen Kontakt zu 9000 ähnlichen Projekten und manchmal kommen bis zu 1000 Anfragen pro Tag in Bremen an. Ein Erfolg, der sich auch in seinen Büchern niederschlägt und wiederspiegelt. Seine Werke fanden nach Ende des Vortrages reißenden Absatz und er musste noch viele Bücher signieren.
Schwungvoller musikalischer Abschluss
Würdig und schwungvoll wurde der Abend von der Bezirkskantorei und dem Kirchenchor Langenburg unter der Leitung von Stefanie Pfender umrahmt. Auch Scherf zeigte sich als leidenschaftlicher und erfahrener Chorsänger und Dirigent. Abgeschlossen wurde der Abend deshalb mit dem von ihm dirigierten Kanon „Dona nobis Pacem“.