„Die einen dienen, die anderen verdienen“ – Rede und Gesangseinlage des DGB-Kreisvorsitzenden Siegfried Hubele bei der Mai-Kundgebung in Schwäbisch Hall

Die Begrüßungsrede bei der Demonstration am „Tag der Arbeit“ in Schwäbisch Hall hielt Siegfried Hubele, DGB-Kreisvorsitzender Schwäbisch Hall. Er erinnerte auch an die Anfänge der Maikundgebungen auf dem  „Haymarket“ in Chicago. Hohenlohe-ungefiltert veröffentlicht die Rede Hubeles in voller Länge – außerdem auch das von Schalmeien begleitete Lied „Trompetenecho-Pegida“.

Siegfried Hubele, DGB-Kreisvorsitzender Schwäbisch Hall

Begrüßungrede vom 1. Mai 2016:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste mit und ohne Amt oder Funktion, aber mit einem solidarischen Gedanken im Kopf und im Herzen,  für die Sache der Gewerkschaften – ich begrüße euch ganz herzlich zur Maikundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Schwäbisch Hall. Vor 130 Jahren, am 1. Mai 1886 demonstrierten in den USA rund 400.000 Beschäftigte dafür, dass in die Arbeitsverträge der Achtstundentag aufgenommen wird. Die größte Demonstration fand in Chicago statt. Es waren friedliche Proteste. Nach zwei Tagen eskalierte die Situation, als die Polizei Streikposten angegriffen hatte und dabei tötete. Der Protesttag auf dem „Haymarket“ in Chicago gilt als die Geburtsstunde des 1. Mai als Kampf- und Feiertag der Gewerkschaften.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Im 130. Jahr nach den Protesten der amerikanischen Arbeiter für Arbeitszeitverkürzung – gibt es wieder Angriffe auf den erkämpften Acht-Stunden-Tag hier im Land. Schon 2015 wollten die Arbeitgeber auf den 8-Stundentag losgehen. Nun fordern sie eine Abschaffung der Tageshöchstarbeitszeit. Arbeitstage von über zehm Stunden sollen möglich sein, das Arbeitszeitrecht soll nach ihren Wünschen auf Wochenarbeitszeit, statt Tageshöchstarbeitszeit umgestellt werden.

Für Arbeitszeitverkürzung einsetzen

Regelmäßige Überstunden, ständige Erreichbarkeit, Arbeiten an Sonn- und Feiertagen, weniger freie Zeit, schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf – all das bleibt nicht ohne Folgen. Entgrenzung der Arbeitszeit und ständig wachsender Druck auf Beschäftigte machen krank. Depressionen und psychische Erkrankungen steigen rapide an. Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir als Beschäftigte wieder über Arbeitszeitverkürzung diskutieren und uns dafür einsetzen.

Profitmaximierung auf Kosten der sozialen Sicherheit

Diese Auseinandersetzung wird eine harte sein, weil sie dem Flexibilisierungswahn der Manager entgegensteht. Sie wollen Arbeit nicht umverteilen, damit unterbeschäftigte und arbeitslose Menschen eine faire Beschäftigung erlangen – sie wollen Arbeit weiter flexibilisieren mit Leiharbeit, Werkverträgen und Befristungen, um zielgenau Profitmaximierung auf Kosten der sozialen Sicherheit, vor allem der jungen Kolleginnen und Kollegen, durchzusetzen. Arbeitszeitverkürzung ist notwendig, wenn ich nur an die Vernichtung von Arbeitsplätze beim Mahle-Konzern auch hier in der Region denke oder auch beim Voith-Konzern. Wo sollen in einigen Jahren die jungen Kolleginnen und Kollegen eine auskömmliche Arbeiten haben?

Die einen dienen, die anderen verdienen

Eine Gesellschaft und Wirtschaft, die nur an steigenden Renditen, an niedrigen Arbeitskosten und hohen Kontoständen für einige Wenige interessiert ist, das kann nicht „Unsere“ Wirtschaft sein! 11,5 Millionen Euro  Jahresgehalt für das VW-Vorstandsmitglied Andreas Renschler in 2015 ist einfach eine Sauerei. Solche Zustände können, ohne rot zu werden, als Ausdruck einer Klassengesellschaft bezeichnet werden. Nach dem Motto: Die einen dienen, die anderen verdienen. Daran hat sich leider die letzten 150 Jahre grundsätzlich nichts verändert. Nur die Schminke ist dicker aufgetragen. Der Betrug ist nicht mehr so offenkundig. Er wird verklärt.

31-Milliarden-Vermögen ohne Steuerzahlungen vererbt

Die Kolleginnen und Kollegen von Verdi haben für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst ein akzeptables Ergebnis errungen. Trotzdem ist es scheinheilig, wenn die Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes die wichtige Arbeit ihrer Beschäftigten schlechter entlohnen wie in der Industrie und sich auf mangelnde Finanzmittel der öffentlichen Hand berufen. Wenn es der Gesetzgeber andererseits duldet, dass  Superreiche sowie  internationale Konzerne ganz legal Steuern in Deutschland vermeiden können. So konnte zum Beispiel die Familie Quandt ihr 31-Milliarden-Vermögen im vergangenen Jahr ohne Steuerzahlungen vererben. Und die Bayer AG hat ihre Steuern in den vergangenen zehn Jahren um mehr als drei Viertel gesenkt.

Kinderleicht für Reiche, Steuern zu hinterziehen

Das Auslandsvermögen von Deutschen in Steueroasen, wie zum Beispiel Panama, wird auf mehrere hundert Milliarden Euro geschätzt. Die bisher bekannt gewordenen Fälle machen deutlich, dass diese Vermögen praktisch nie versteuert wurden. Der Kinderbuchautor Janosch hatte sicherlich keine Landkarte für Reiche geliefert als er das wunderbare Büchlein verfasste: Ach wie schön ist Panama. Aber es scheint wohl kinderleicht für Reiche zu sein, Steuern zu hinterziehen!

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Die Empörung müsste riesig sein. Vor allem bei unseren jüngeren Kolleginnen und Kollegen. Schäuble, die Versicherungswirtschaft, Teile der politischen Eliten und die Arbeitgeber wollen die Rente ab 70 Jahren. Was die wollen, sind nicht gesundheitlich verbrauchte, angeschlagene Beschäftigte, die da aus den Büros und Fabriken rauskommen – die Pläne sind – Rentenkürzungen, zusätzliche Märkte für private Rentenversicherungsanbieter und mehr öffentliches Geld für andere politische Projekte.

Kolleginnen und Kollegen,

Geplant ist für die nächsten 15 Jahre eine ungeheure Aufrüstung der Bundeswehr, die uns 130 Milliarden Euro kosten soll. Allein beim Verzicht auf das Rüstungsprojekt Eurofighter, das rund 26 Milliarden Euro kosten soll, könnten gut 148.000 sozial geförderte 3-Zimmer-Wohnungen bezahlt werden. Die Kosten für die Anschaffung des Kampfhubschraubers „Tiger“ – 5.1 Milliarden Kosten – damit könnten 2400 Ganztagesbereiche für Grundschulen ausgebaut werden. Das wären unsere Alternativen !

Aufrüstung bringt kein bisschen mehr Frieden

Die Aufrüstung der Bundeswehr und der NATO hat uns in der Vergangenheit kein bisschen mehr Frieden beschert. Im Gegenteil. Es hat dazu geführt, dass zum Beispiel aus Afghanistan allein zwischen Januar und März 2016 –  20.100 Menschen wegen Krieg geflohen sind. Im selben Zeitraum haben wegen Krieg 25.700 Menschen aus dem Irak Asyl in unserem Land beantragt, aus dem Bürgerkriegsland Syrien kamen in diesem Zeitraum 88.700 Flüchtlinge.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

der Hauptgrund der Flucht dieser armen Menschen ist Krieg. Nach dem politischen Bruch mit dem Assad-Regime sorgten die NATO-Staaten für eine gezielte Destabilisierung Syriens. Durch direkte und indirekte Unterstützung islamistischer Terrorgruppen. Wie das zuvor schon in Afghanistan mit den Gotteskriegern der Mutschahedin praktiziert wurde. Auch die deutsche Bundesregierung ist unmittelbar mitverantwortlich, weil sie Waffen an Saudi-Arabien liefert, die Türkei militärisch unterstützt, die ihre Bevölkerung brutal unterdrückt und Terrorbanden wie den IS versorgt. Die deutsche Rüstungsindustrie zählt zu den fünf größten Waffenlieferanten in der Welt. Wenn wir Fluchtursachen ernsthaft bekämpfen wollen, dann müssen:

– Aufrüstung und Auslandseinsätze des Bundeswehr aufhören

– dann muss der Export von Kriegswaffen aus Deutschland gestoppt werden.

– dann müssen solche Einsatzzentralen wie das Eucom und Africom in Stuttgart, von wo aus die US-Armee weltweit Kriegseinsätze und Drohnenangriffe lenkt – geschlossen werden.

Daran führt kein Weg vorbei.

Liebe Mitglieder einer DGB-Gewerkschaft:

„Die Gewerkschaften treten für das Recht auf Asyl auf der Grundlage des Flüchtlingsbegriffs der Genfer Flüchtlingskonvention ein. Sie engagieren sich für eine Gesetzgebung und Verwaltungspraxis, die Flüchtlingen tatsächlichen Schutz und ein menschenwürdiges Leben in unserem Land ermöglicht. Gewerkschaften setzen sich für eine tolerante Gesellschaft ein, in der Zuwanderer das Recht und die Möglichkeit haben, ihre Kultur und ihre Erfahrungen in die Gesellschaft einzubringen. Die Gewerkschaften treten allen Erscheinungsformen von Extremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – auch in den eigenen Reihen – entgegen.“

Humanitäre Katastrophe in Griechenland

So steht das im Grundsatzprogramm des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und danach haben wir zu handeln. Deshalb verurteilen wir auch die europäische Asylpolitik die chaotische Verhältnisse und eine humanitäre Katastrophe insbesondere in Griechenland für die Kriegsflüchtlinge ausgelöst hat.

Gegner sind die Kriegstreiber, Lohnkürzer und Sozialabbauer

Wir können es  nicht zulassen, dass Deutsche gegen Flüchtlinge ausgespielt werden. Wir müssen dieser Spaltung unsere Solidarität entgegensetzen. Flüchtlinge und Deutsche haben den gleichen Gegner: Die Kriegstreiber, Lohnkürzer und Sozialabbauer!

Eine Gesangseinlage bei der Mai-Kundgebung in Schwäbisch Hall:

Trompetenecho-Pegida

Gesungen von Siegfried Hubele, Schwäbisch Hall

Habe die Ehre, I bin da Brandbeauftragte Florian von d’AfD. A poor von eich ham uns a g’wählt ! Im kumm pfeilgrad vom Parteitag aus Stgt. Mir ham jetzt a ein Parteilied – des is no ganz geheim ! Aber wenns des Liedl hörts? Do lernts uns no kenna!

Zündeln damma, brenna damma, Häuser zünd’mer o
damit da Neger und der Syrer nimmer komma ko
AfD und Pegida – alle Vögel sind schon da
mir san die deitsche Leitkultur von Ulm bis Alaska

Schwule, Leschba, Wirtschaftflüchtling –  find‘ mor alle bleed
mir sann die Zier des Abendlands – hauts ab sonscht tuts no weh!
Lügenpresse in die Fresse, koaner hält uns auf
Flüchtlingselend sehn mor ned – drum schlag mor auf se drauf

Grenzenlos damit ist’s endlich Schluss und aus
koaner kimmt mehr rei – die schmeiss’mer hochkant raus
Stacheldraht und Tränengas, die sind famos
wer net spurt den schieß’mer glei, drunt am Balkan dod.

Orban, Höcke, Frauke Petry und die Storch
des san doch koine Nazis – nur Rassisten – Quasi
Die Frag‘ für Uns ischt tragisch, wenn du bischt irakisch
hasch’n reinen Saft im Schlauch, dann bischte super-arisch.

Was kümmert uns das Kriegsgeschehn, Flüchtlingselend, Massenmord
Mir ham halt guate Waffa , die mer gern verkaffa
So lang das so floriert – da sammer für’n Kriag
Und flücht’n dann die Leit ganz doll – dann sog’mars Boot ist voll!

Wir haben viel Erfolg damit – die anderen machen endlich mit
denn der Geschäftsplan ist genial –  verkaffa Leit an Erdogan
der hält uns d’Leit mit G’walt vom Hals – ach sind wir christlich, Gott erhalts.
Mir sind doch a Kulturnation – im Namen des Vaters und des Sohns.

Amen.

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„Arbeitgeber bieten Magerkost – Altersarmut im reichen Deutschland ist eine Schande“ – Kundgebungsredner Wolfgang Däubler kritisiert in Schwäbisch Hall die Reichen und fordert mehr Solidarität

Hauptredner bei der Mai-Kundgebung 2016 in Schwäbisch Hall war Professor Dr. Wolfgang Däubler, Professor für Arbeitsrecht an der Universität Bremen. Däubler sprach schon 1978 bei einer Mai-Feier in Schwäbisch Hall. Ein Leserbriefschreiber beschwerte sich anschließend über „kommunistische Propaganda“ in der Lokalzeitung.

Von Wolfgang Däubler, Redner am 1. Mai 2016 in Schwäbisch Hall

Däublers Rede 2016 im Wortlaut:

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

herzlichen Dank für die Einladung, hier auf dieser Kundgebung in Schwäbisch Hall sprechen zu können. Es ist das zweite Mal, dass ich als Mairedner hier bin. Das erste Mal war ich 1978 da. Die Schalmeienkapelle hat damals auch schon gespielt. Die Stimmung war gut, obwohl es seit 1974 in der Wirtschaft nicht mehr so ganz rund lief. Das Haller Tagblatt berichtete ganz objektiv über das, was ich gesagt hatte. Doch da entsetzte sich ein Leserbriefschreiber: So viel kommunistische Propaganda habe er noch nie im Haller Tagblatt gelesen, das sei schlimmer als im Neuen Deutschland. Nun ja, es gab etliche Erwiderungen, auch vom damaligen DGB-Vorsitzenden Siedentopp. Die freie Presse blieb letztlich Sieger; irgendwie hat sich die Aufregung dann wieder gelegt.

Anerkennung und Solidarität für die Streikenden

Heute haben wir andere Sorgen als den angeblich so bösen Feind im Osten. Die Gewerkschaftsbewegung hat eine nicht ganz einfache Zeit hinter sich. Zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2010 fielen die Reallöhne – netto und in Kaufkraft gemessen – im Durchschnitt um 3 Prozent. Die nominalen Tariferhöhungen wurden mit Zulagen verrechnet. Was übrig blieb, fraßen Inflation, Steuern und Abgaben auf. Erst 2014 war das reale Niveau von 2000 wieder überschritten – um ganze 1,4 Prozent. Die Kapitaleinkünfte hatten sich in derselben Zeit um 60 Prozent erhöht. Schon deshalb finde ich die 5-Prozent-Forderung der IG Metall in Ordnung: es besteht noch immer gewaltiger Nachholbedarf. Allein in Baden-Württemberg haben sich am Freitag mehr als 35.000 Beschäftigte an Warnstreiks beteiligt – sie haben unsere Anerkennung und unsere Solidarität verdient.

Ein lachhaftes Tarif-Angebot

Die Arbeitgeber bieten bei einer Laufzeit von zwei Jahren 2,1 Prozent an, das heißt pro Jahr 1,05 Prozent. Das ist Magerkost, besser: Hungerkünstlerdiät, im Grunde ein lachhaftes Angebot. Klar, dass es da zu  Streiks kommen muss. Und wir müssen uns für einen Streik überhaupt nicht entschuldigen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das Recht auf Streik ist ein Grundrecht, nicht anders als die Meinungsfreiheit und das Recht auf Demonstration.

Zwei Drittel der Forderungen durchzusetzen, sind ein normales Ergebnis

Die deutschen Gewerkschaften haben in den letzten 50 Jahren von ihrem Streikrecht nur einen sehr sparsamen Gebrauch gemacht. Das versteht man, wenn es auch ohne Streik aufwärts geht, wie das in der Tat lange der Fall war. Man versteht es auch, wenn die Arbeitgeber wie in der chemischen Industrie so klug sind, Angebote zu machen, mit denen man gut leben kann. Wenn aber Grund besteht, sich zu empören, und wenn dann nichts geschieht – dann gehen die Kollegen von der Fahne, und die, die dabei bleiben, sind enttäuscht und können niemanden mehr motivieren und zum Beitritt bewegen. Als Gewerkschaftsmitglied will man sicher sein, dass man gemeinsam mit anderen etwas für seine Interessen tun kann, dass man eine loyale Führung hat, die zu ihren Idealen steht, und dass sie auch zum Kampf bereit ist. Deshalb ist es gut, wenn es jetzt zu breiten Warnstreiks kommt. Bevor man dann abschließt, sollte man sich zudem an Otto Brenner erinnern, der mal gesagt hat: Zwei Drittel der Forderungen durchzusetzen, sind ein normales Ergebnis. Ich habe gerechnet: Zwei Drittel von 5 Prozent sind 3,33 Prozent. Das muss mindestens herauskommen, sonst hat sich die Sache nicht gelohnt; 2,5 Prozent würden nicht genügen.

Unser Motto für den 1. Mai 2016 lautet: „Zeit für mehr Solidarität“. Das regt zum Nachdenken an.

„Zeit“ fehlt den allermeisten von uns. Wir haben eine tarifliche Arbeitszeit von 35 Stunden bei Metall und Druck; im Durchschnitt aller Branchen liegt die Wochenarbeitszeit bei 37,5 Stunden. Die tatsächliche Arbeitszeit beläuft sich aber auf etwa 42 Stunden. Dazu kommen inoffizielle Überstunden. Fast 40 Prozent aller Beschäftigten müssen auch in ihrer Freizeit jederzeit für ihren Chef oder für Kunden erreichbar sein. Eine wachsende Zahl von Beschäftigten arbeitet auch zu Hause oder auf dem Weg – in der Bahn, auf Dienstreise im Hotel, beim Warten auf dem Flughafen. Von mobiler Arbeit ist die Rede, die dem Arbeitszeitkonto nur selten gutgeschrieben wird. Eine empirische Untersuchung ergab, dass 73 Prozent der Befragten nichts extra bekamen. Alles muss immer schneller gehen: Wenn man eine E-Mail nicht gleich beantwortet, kommt die besorgte Nachfrage: Hast du meine E-Mail bekommen? Ich habe sie eigentlich immer gekriegt, aber die Frage ist ja auch nicht unbedingt wörtlich gemeint, sondern will sagen: Jetzt rühr dich doch endlich!

Psychische Erkrankungen nehmen zu

Viel Arbeit, die schnell zu erledigen ist: Das ist die Situation der meisten Kolleginnen und Kollegen. Wenn ich bei Betriebsräteseminaren die Teilnehmer frage, welche Themen sie gerne behandelt hätten, so steht an erster Stelle der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. „Man ist nie fertig“, bekomme ich da zu hören, „man kann nur die größten Löcher stopfen“, aber auch am Freitagnachmittag bleiben immer eine Menge Sachen, die noch zu erledigen wären. Und diese Situation hält nicht jeder und nicht jede durch: Die harmloseren Symptome sind Rückenschmerzen und häufige Erkältungen oder Hexenschuss, die schlimmeren sind Burn-out und psychische Erkrankungen. Psychische Erkrankungen waren 2001 für 6,6 Prozent der Arbeitsunfähigkeitstage verantwortlich, im Jahre 2012 waren es schon 15,5 Prozent.

Was tun? Mit einem Appell, sich mehr Zeit zu nehmen, ist es nicht getan. Man muss nach den Ursachen fragen.

Wir leben in einer Wettbewerbsgesellschaft, wo jeder unter dem Druck steht, immer besser und immer schneller zu arbeiten. Wenn ich mir die Diskussionen um TTIP und CETA anschaue, so gibt es viel berechtigte Kritik. Vorausgeschickt wird aber immer: „Wir sind natürlich für den Freihandel. Wir finden es gut, wenn die letzten Zollbarrieren fallen.“ Mehr Freihandel heißt aber mehr Wettbewerb. Und das schlägt sich unmittelbar in der Arbeitssituation vieler Kolleginnen und Kollegen nieder. Der Wettbewerb ist keine schlechte Sache, weil er zu neuen Ideen zwingt. Aber es ist wie mit einem Medikament: Wenn man zuviel davon nimmt, wirkt es wie Gift und schadet statt zu nutzen. Durch die EU und viele Handelsabkommen haben wir heute schon genügend Konkurrenz und Leistungsdruck: Noch mehr davon können wir nicht brauchen. Schon deshalb: Weg mit TTIP und CETA.

Betriebsrat kann Leistungsdruck für alle reduzieren

Aber was tun, um die konkrete Situation im Betrieb zu verbessern? Es gibt Beschäftigte, die „nein“ sagen können, weil sie gesuchte Fachkräfte sind und nichts befürchten müssen, wenn der Chef die Stirn runzelt. Das sind leider nicht alle, aber aufgrund der demographischen Entwicklung wächst ihre Zahl. Ein Betriebsrat kann eine Menge tun, um den Leistungsdruck für alle zu reduzieren. Viele setzen eine so genannte Gefährdungsbeurteilung durch, die heute auch die psychischen Belastungen einbeziehen muss. Der Betriebsrat muss dabei einen langen Atem haben und gerade dann aktiv bleiben, wenn das Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung vorliegt: Er muss alles tun, um die empfohlenen Verbesserungen zu realisieren. Auch die Einstellung neuer Arbeitskräfte kann man manchmal durchsetzen, es gibt Beispiele dafür!

Man kann die Arbeitshetze reduzieren, man kann Zeit gewinnen. Auch Zeit für mehr Solidarität.

Was heißt „mehr Solidarität“? Ich hatte mal einen Gesamtbetriebsrat zu beraten, als es um die Schaffung eines Verhaltenskodex für das Unternehmen ging. Die Arbeitgeberseite wollte das Leistungsprinzip festschreiben, im Sinne von noch mehr Effizienz und noch besserem Output. Wir haben dagegen gesetzt: Leistung besteht auch darin, einer Kollegin oder einem Kollegen zu helfen, der mit seiner Arbeit in Schwierigkeiten gerät oder persönliche Probleme hat. Wer hierfür Zeit erübrigt, verdient die besondere Anerkennung des Unternehmens, schrieben wir in unseren Entwurf. Das war überhaupt nicht nach dem Geschmack des Arbeitgebers, aber so richtig dagegen wollte er auch nicht sein: Also hat er auf den gesamten Abschnitt über Leistung verzichtet.

Ehrenamtliche Helfer für Flüchtlinge

Solidarität ist im zwischenmenschlichen Bereich angesiedelt. Als vor einigen Monaten zahlreiche Flüchtlinge hier ankamen, fanden sich unheimlich viele ehrenamtliche Helfer. Sie hatten alle plötzlich Zeit, und ich habe mich gefragt, warum so viele Leute hinter dem Ofen hervorgekommen sind. Vermutlich war es der Gedanke, hier mal etwas ganz konkret Nützliches tun zu können, eine Sache, die ihren unbestreitbaren Eigenwert hat. Das ist nicht Alltagsroutine wie sonst, bei der man sich fragen muss, wo eigentlich der Nutzen liegt und wem er zugute kommt. Die Helfer verdienen unser aller Anerkennung.

Haben wir in Afghanistan wirklich nur Brunnen gebohrt?

Die Aufnahme von rund einer Million Flüchtlingen hat auch viele Besorgnisse ausgelöst. In der aktuellen Situation wird leider viel zu selten nach den Ursachen der Fluchtbewegung gefragt. Hat nicht vielleicht auch die deutsche Außenpolitik ihren Anteil daran, dass bestimmte Länder destabilisiert wurden? Dass die Lebensbedingungen dort unerträglich wurden? Denn man verlässt seine Heimat nur, wenn man wirklich keine andere Alternative hat, wenn einem das Wasser zum  Halse steht. Ich frage mich immer: Haben wir in Afghanistan wirklich nur Brunnen gebohrt oder Kurse in Buchhaltung angeboten? Wie war und ist es mit unserer Neutralität im syrischen Bürgerkrieg? Warum müssen plötzlich deutsche Truppen ins Baltikum? Gut, wird man sagen, wir sind nun mal im westlichen Bündnis, und das ist mit Pflichten verbunden. Aber gehen sie wirklich so weit? Müssen wir den Weltoberpolizisten wirklich bei allen seinen Aktionen unterstützen? Sind wir so eine Art Hilfssheriff? Gleiche Rechte haben wir sowieso nicht. Man muss sich nur mal überlegen, was passiert wäre, wenn der BND das Handy von Obama abgehört hätte? Ob er dann wohl auch als freundlicher Onkel auf Abschiedstour gekommen wäre? Man hätte sich vermutlich fünf mal entschuldigt für so ein schreckliches Versehen ganz unbedeutender unterer Instanzen. Vielleicht hätte aber auch die Regierung zurücktreten müssen. Wie hat George Orwell mal geschrieben? Alle sind gleich, aber einige sind noch gleicher.

Die deutsche Außenpolitik gehört auf den Prüfstand

Doch zurück zu den Flüchtlingen. Unsere Gesellschaft ist nicht nur auf schnellen Output gepolt, sondern sie vergisst auch schnell. Nach 1990 sind mehr als zwei Millionen Übersiedler aus der früheren Sowjetunion und Osteuropa zu uns gekommen. Sie kamen als so genannte Volksdeutsche, obwohl manche nicht viel mehr Deutsch konnten als „bitte“ und „danke“ sagen. Das machte am Anfang einige Probleme, aber heute sind das keine mehr. Die Zuwanderer sind integriert, die Deutsch-Kurse hatten Erfolg. Warum soll dies jetzt anders sein?

Je geringer der Ausländeranteil, umso größer die Ausländerfeindlichkeit

Plötzlich taucht die These auf, die deutsche Bevölkerung werde zur Minderheit im eigenen Land, überall würden Moscheen gebaut. Mit Realität lässt sich das nicht begründen: Wie soll eine Minderheit von nicht mal zehn Prozent plötzlich in unserer Gesellschaft den Ton angeben? Doch Ängste sind oft irrational: Je geringer der Ausländeranteil, umso größer die Ausländerfeindlichkeit. Und noch eines: Deutschland war schon immer ein Einwanderungsland, was mit seiner wirtschaftlichen Stärke zusammenhängt. Woher kommen denn die vielen Namen polnischen Ursprungs, die Kowalskis, Kwiatkowskis und Lojewskis, im Ruhrgebiet und anderwärts? Sind das denn keine Deutschen geworden? Di Fabio heißt ein bekannter Verfassungsrichter, übrigens Sohn italienischer Gastarbeiter. Wo liegt das Problem? Wir haben im Gegenteil eine schlechte Bevölkerungspyramide mit viel zu wenig jungen Menschen: Durch die Zuwanderung wird dies ein Stück weit ausgeglichen.

Keine Arbeitenden erster und zweiter Klasse zulassen

Solidarität bezieht sich nicht nur auf Menschen, die unmittelbar Hilfe brauchen. Es geht auch darum, in den Betrieben keine Arbeitenden erster und zweiter Klasse zuzulassen. Ich meine damit die Leiharbeitnehmer und die Beschäftigten, die auf Grund von Werkverträgen in die Betriebe kommen. Im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien heißt es, dass man die Stellung der Leiharbeiter verbessern und auch die Werkverträge regeln wolle. Das Arbeitsministerium hat zunächst einen Gesetzentwurf vorgelegt, der genau das umsetzen wollte, was im Koalitionsvertrag drinstand. Doch der CSU war dies schon zu viel und sie legte ihr Veto ein. Nunmehr haben wir einen verdünnten Entwurf, der zwischen den Ministerien kursiert. Ob er es auch nur zum Regierungsentwurf bringt, ist fraglich; noch mehr muss man zweifeln, ob er vom Parlament verabschiedet wird.

Im Zweifel ist bei der SPD „Einknicken“ angesagt

Mit der SPD ist es wie früher mit den Gewerkschaften: Man hat nicht den Eindruck, dass sie für ihre Vorstellungen wirklich kämpft. Dabei geht es mir nicht um Personen: ich würde von Andrea Nahles nach einigem Nachdenken durchaus einen Gebrauchtwagen kaufen, mir allerdings die letzte TÜV-Diagnose sehr genau ansehen oder einen Experten mitnehmen. Es geht mir um die Politik der Gesamtorganisation: Im Zweifel ist „Einknicken“ angesagt. In den Wahlen gibt´s dann die Quittung. Dennoch macht man weiter wie bisher; die Lernfähigkeit dieser Organisation ist nicht besonders ausgeprägt – um es diplomatisch zu formulieren.

Kurt Tucholsky: Du glaubst, du tust was für den sozialen Fortschritt, aber mit der Partei kommt er nie

Regeln allein für die Leiharbeit zu machen und bei Werkverträgen nur ein Informationsrecht des Betriebsrats vorzusehen – wie es der Entwurf vorsieht – bringt nichts. Viele Tätigkeiten von Leiharbeitnehmern lassen sich auch über Werkverträge erledigen. Solange man diese nicht gleichwertig mitregelt, sind die ganzen Bemühungen umsonst, weil der Arbeitgeber automatisch in Werkverträge ausweicht. Früher gab es mal einen Tarifvertrag im Bergbau, der gerade die Werkverträge erfasste: Der Arbeitgeber durfte zwar weiterhin Aufgaben nach außen vergeben, aber nur unter einer Bedingung: Die für den anderen Unternehmer Arbeitenden mussten nach Tarifvertrag bezahlt werden. Das könnte heute noch ein Vorbild sein: Vielleicht in der nächsten Metall-Tarifrunde? Es von der Arbeitsministerin zu erwarten, ist so, wie wenn man Gerechtigkeit vom Jüngsten Gericht erwartet. Frei nach Kurt Tucholsky: Du glaubst, du tust was für den sozialen Fortschritt, aber mit der Partei kommt er nie.

Altersarmut im reichen Deutschland ist eine Schande

Was wir brauchen ist eine breite soziale Bewegung für faire Arbeitsbedingungen und weniger Ungleichheit in der Gesellschaft. Der Mindestlohn war ein richtiger Schritt, und er kam nur, weil es in der Bevölkerung wie in der Öffentlichkeit eine breite Mehrheit dafür gab. Das ist ein Beispiel, das uns Mut machen kann. Wir sollten nicht mehr weiter zuschauen, wie die Renten immer mehr abgeschmolzen werden. Heute liegt das Rentenniveau im Durchschnitt bei 46 Prozent, in 14 Jahren soll es nur noch bei 39 Prozent des aktiven Gehalts liegen. Altersarmut wird so für viele Realität. Für ein so reiches Land wie die Bundesrepublik ist das eine Schande.

Die Reichen zur Kasse bitten – Eigentum verpflichtet

Wir müssen uns das nicht gefallen lassen. Wir können das oberste Prozent der Bevölkerung zur Kasse bitten, dem ein Drittel des ganzen Volksvermögens gehört. Oder noch besser: Das oberste Promille, also rund 80.000 Menschen, hat 16 mal mehr Vermögen als die ganze untere Hälfte der Gesellschaft. Im Grundgesetz heißt es nicht: Das Eigentum ist heilig. Vielmehr heißt es: Das Eigentum verpflichtet.

Wir müssen uns wehren und wir müssen zusammen stehen: Dann erreichen wir wirkliche Reformen und eine bessere Gesellschaft.

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