„Lang beschattete Täler“ – Eine Fortsetzungsgeschichte von Birgit Häbich: Der Episoden einunddreißigster Teil

„Lang beschattete Täler“ – Eine Fortsetzungsgeschichte von Birgit Häbich: Der Episoden einunddreißigster Teil. Die geschilderten Handlungen, Personen und Namen sind frei erfunden. Es werden keine realen Namen von Personen angegeben. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten, lebenden oder toten Personen wären rein zufällig, und sind weder gewollt noch beabsichtigt.

Von Birgit Häbich

XXXI Winter

…Die zweite Tasse Rumschokolade genießend, ließ Carl die wunderbare Atmosphäre im Jadel auf sich wirken. Er sinnierte darüber nach, wie sich die kommende Woche im Hochschwarzwald wohl gestalten würde. Der Abschlussbericht von Leopold Findus, seinem Informant, lag ihm nunmehr vor. Danach war seine geliebte Paula im Jahr zweitausendsechzehn, ganz kurz vor dem Weihnachtsfest, hinterhältig überfallen und niedergeschlagen worden. Sie war damals mit einem Schweizer Rechtsanwalt und Notar verabredet. Anstatt jedoch zum Abschluss ihrer langwierigen Erkundigungen zu gelangen – erwachte Paula aus einer Bewusstlosigkeit, die sie sich nicht erklären konnte. Die Vorboten zum geplanten Hinterhalt, die sie hätten misstrauisch machen können, wurden in dem damals vorangehenden Sommer von Paula arglos übersehen. Sie wiegte sich in Sicherheit und traf daher keinerlei nützliche Vorkehrungen, um sich gegen einen gezielten Angriff auf ihr Leben zu schützen. Im Kreiskrankenhaus wurde am Tag nach dem nächtlichen Überfall ein Schädelbruch diagnostiziert.

Hohenzollern

Durch die Recherchen seines Informanten Findus wurde der erste Verdacht, dass es sich um eine familiäre Tragödie handeln könnte, erhärtet. Immer noch stockte Carl beim Gedanken an diesen Überfall der Atem. Paula Engel hatte zwei Vettern, beide waren Söhne der Schwester ihres Vaters. Renate verheiratete sich, und zog dann, gut situiert, hinauf an den Rand des Albtraufs. Dort, unweit der hoch oben thronenden Burg Hohenzollern, lebte sie mit ihrem Mann und den Söhnen Wilhelm und Roger. Die Buben aus der Familie Teufel wuchsen neben Paula und ihrem kleinen Bruder auf, da zu dieser Zeit, enger Kontakt zwischen der hochgelegenen Albstadt und der Stadt am Kocher gehalten wurde. Schon damals, als Paula gerade lernte, sich aus eigener Kraft, an den hölzernen Gitterstäben des Laufstalls hochzuziehen, war ihrem Vetter Wilhelm das geschickte Bäßle* bereits ziemlich unheimlich. Sobald er nahe an Paula vorbei lief, giftete sie ihn aus ihrem Laufstall heraus an, schnellte mit der einen Hand vor und krallte sich in seinen Kleidern fest, um mit der anderen Hand beherzt in seinen Haarschopf zu greifen und an seinen Haaren zu ziehen.

Ungesunde Veränderungen

Carl musste Paula unbedingt zu ihrer Kindheit befragen. Es war ja gut möglich, dass eine versteckt verzwickte Situation, kleine familiäre Streitereien aus der Kindheit, zu dieser beinahe tödlichen Eskalation führte. Da Carl bei Paul zum Abendessen eingeladen war, wollte er sich vorher noch die Füße vertreten und frische Luft schnappen. Er stand auf, um bei Jadel Junior die Rechnung der edlen Gedecke an der Kasse zu begleichen und wurde dann freundlich aus dem Café verabschiedet.
Später im Esszimmer bei Paul, führten er und Carl ihr Gespräch aus dem Jadel fort. „Es ist grad schwierig an eine Änderung zum Guten hin zu glauben.“, meinte Paul, „Nicht nur bei Studierenden und Schülern, sondern auch in meinem Arbeitsbereich bei der Betreuung von jungen Menschen in der beruflichen Bildung, finden sehr viele ungesunde Veränderungen statt.

Ansprache und Förderung

Diejenigen die von zu Hause begütert und mit digitalen Geräten und Anschlüssen ausgestattet sind, verkraften das vielleicht gerade noch so. Aber stell dir mal vor: Es wurde angeordnet junge Menschen, die dringend Hilfen beim Lernen brauchen, mit Videounterricht abzuspeisen. Da handelt es sich um Heranwachsende, die sich in einem Ausbildungsverhältnis befinden, sie sind motiviert; sie sind die klugen Facharbeiter und findigen Handwerker von morgen. Sie haben nur Lücken im theoretischen Bereich, beim Rechnen oder beim Schreiben. Was gebraucht wird, sind Ansprache und Förderung sowie Unterstützung im theoretischen Bereich.“

Aufwendige Ferienvergnügungen

„Haben diese jungen Menschen denn einen Hauptschulabschluss?“ fragte Carl. Als Paul mit dem Kopf nickte, fragte Carl Eugen weiter: „Woher kommen dann die Wissenslücken? Ein normaler Hauptschulabschluss ist doch ausreichend, um eine solide Berufsausbildung absolvieren zu können.“, stellte er fest.
„Nun, es gibt viele Gründe und ein Hauptschulabschluss ist nicht mehr das, was er in deiner Jugendzeit war. Da sind zum einen Einheimische, die irgendwann einmal mit erzieherischen Methoden verschreckt wurden, die nicht zu ihrem Gemüt oder ihrer Leistungsfähigkeit gepasst haben. Und dann Enkel und Urenkel der Arbeitsmigranten aus der Wirtschaftswunderzeit, welche man jahrelang durch Schulen geschleust hat, ohne sich um eine sinnvolle Nachhilfe für ihre Defizite zu scheren. Lehrer, die nicht den Mut hatten sich nach oben hin gegen inhaltsleere Methoden des Unterrichtens zu wehren. Und nicht zu vergessen, die Lehrkörper, die ihrer wahrhaftigen Berufung gefolgt sind und aufwendige Ferienvergnügungen vor den erzieherischen Auftrag gestellt haben.

Gesellschaftliche und kulturelle Hintergründe

In den ausbildungsbegleitenden Hilfen zum Beispiel sind neu Eingewanderte oder deren Kinder als Teilnehmer einer Fördermaßnahme dabei. Denen fehlt natürlich neben der sprachlichen Ausdrucksform auch das Wissen um gesellschaftliche und kulturelle Hintergründe. Da kann man oft nicht einmal davon ausgehen, dass ein gewöhnliches Werkzeug erkannt oder gar richtig benannt werden kann“, erläuterte ihm da Paul ausführlich und ergänzte in absolut überzeugtem Ton: „Deutschland hat ein ausgezeichnetes duales Ausbildungssystem, da seid ihr ein leuchtendes Vorbild in der Welt. Aber man muss auch da die vordergründig schwächeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen integrieren und sie mitnehmen. Beziehungsweise unter globalen Gesichtspunkten gesehen: Jetzt erst recht sehr gut ausbilden. Was unter anderem heißt, eben ganz gezielt fördern – sie sind unsere Zukunft. Nicht nur wenn sie hier bei uns in Baden-Württemberg, in Deutschland oder in Europa bleiben, sondern auch wenn sie in ihre Heimatländer auf anderen Kontinenten zurückkehren.

Lebendiges Wissen

„Weißt du, Carl.“, dozierte Paul nun in voller Fahrt weiter: „In ihren Heimatländern sind sie sehr wertvolle Katalysatoren. Sie sind es, die genau diese Neuerungen einführen können, die man dort so dringend braucht – jedoch nicht schon wieder von den ehemaligen Kolonialherren aufs Auge gedrückt bekommen will. Von denen, welche die Sprache sprechen und die Gepflogenheiten kennen, nehmen ja auch hier die Eingeborenen eher etwas an“, augenzwinkernd schloss er seine Ausführungen mit den Worten ab: „Ich hoffe sehr, dass viele der jungen Flüchtlinge später auf ihre Kontinente zurückkehren und sich dort nützlich machen. Sie nehmen ja nicht nur das fachliche, das berufsbezogene, sondern auch das lebendige Wissen aus einer freien Gesellschaft mit.“

Abdriftende

„Manchmal habe ich gerade deswegen große Sorgen um den Nachwuchs“, beleuchtete Carl nun seine Sicht: „Die Lernmethoden – ob in Schulen oder Universitäten – daheim und auf Abstand sind allesamt wenig effektiv. Wenn schon über Beschränkungen beschlossen wird, müssen unbedingt Ausnahmen her. Oft sind die technischen Ausstattungen bei den Lernenden daheim ja gar nicht vorhanden, um einer Erklärung folgen zu können. Zum besseren Verständnis einer Materie ist die lebendige und menschliche Nähe einer vermittelnden Lehrkraft unbedingt erforderlich – es braucht diesen direkten und unmittelbaren Kontakt – und es braucht den direkten Kontakt der Lernenden zueinander. Das digitale Füttern von Kindern und Jugendlichen mit abstraktem Wissen ist haarsträubender Quatsch. Viele klinken sich dabei unbemerkt aus, oder melden sich erst gar nicht zu den geplanten Veranstaltungen an. Niemand kümmert sich mehr umeinander und die Abdriftenden verschwinden still und leise. Dort wo er verlorengegangen ist, muss wieder der Mut zum Präsenzunterricht aufgebracht werden. Das sollten unsere Universitätsdekane, Schulrektoren und die Leitungen in Bildungseinrichtungen unbedingt durchsetzen, um mit Bildung gegen die Planspiele* der Angst vorzugehen.“

Begegnungen

„Der Mensch wird nur am DU zum ICH*“, betonte Paul. „Wir nehmen alle etwas aus Begegnungen mit anderen Menschen mit. Wenn wir Begegnungen abschaffen, schaffen wir nicht nur die Spuren anderer in unseren Herzen, sondern auch jede Mitmenschlichkeit ab.“ … Fortsetzung folgt.

Erläuterungen:

*Bäßle: Schwäbischer Ausdruck für die Kusine oder auch Cousine.

*Wirtschaftswunderzeit: Bezeichnung für den rasanten wirtschaftlichen Aufschwung ab den 1950er Jahren, in der nicht nur Europa, die Schrecken der beiden Weltkriege und zu vergessen suchte.
https://de.wikipedia.org/wiki/Wirtschaftswunder

*Ausbildungsbegleitende Hilfen: Maßnahme der Bundesarbeitsarbeitsagentur zur Unterstützung von Auszubildenden, auch kurz abH genannt. https://de.wikipedia.org/wiki/Ausbildungsbegleitende_Hilfen https://www.arbeitsagentur.de/content/1478797061080

*Planspiele zur Angst und Freiheitsbeschränkungen: https://www.youtube.com/watch?v=SSnJhHOU_28

*Der Mensch wird nur am DU zum ICH: Zitat von Dorothee Sölle, nach dem jüdischen Religionsphilosoph Martin Buber.

*Dorothee Sölle, Theologin und Sprachwissenschaftlerin mit besonderem Augenmerkauf die Theologie der Befreiung und für Mystik: https://www.dorothee-soelle.de/

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