„Coronavirus vergrößert soziale Not der Ärmsten“ – Regelbedarfs-Sätze von Hartz-IV-Empfängern um mindestens 100 Euro erhöhen

Das Coronavirus verbreitet sich weiter rasant in Deutschland. Besonders die Ärmsten der Gesellschaft leiden unter dem Ausnahmezustand. Tafeln schließen und Bettler bekommen nichts mehr, weil die Straßen leergefegt sind und alle eine Infektion fürchten. Damit wird „die ohnehin brüchige Lebensgrundlage der Ärmsten vollends zerstört“, so der Armutsforscher Christoph Butterwegge 1).

Von Paul Michel, Schwäbisch Hall

Hoffnungslosigkeit bei Obdachlosen

Butterwegge warnt: „Gerade im Obdachlosen-Milieu greift Hoffnungslosigkeit um sich“. „Einem alleinstehenden Hartz-IV-Bezieher werden für Nahrung und Getränke gerade einmal 150 Euro im Monat zugebilligt.“ Davon könne „niemand gesund leben, erst recht nicht, wenn die Tafelläden wie die Sozialkaufhäuser geschlossen sind und man durch Essen von Obst und Gemüse das Immunsystem stärken“ müsse, so Butterwegge in einem Interview mit dem „Redaktions-Netzwerk Deutschland“.

Kommunale Sozialdienste sind systemrelevanter denn je

„Erfahren die Hartz-IV-Bezieher jetzt keine Aufstockung ihres Regelbedarfs, und sei es auch nur für eine Übergangszeit, versündigt sich der Sozialstaat an den Einkommensschwächsten“, so der Armutsforscher weiter. Konkret erwarte er, „dass es für Hartz-IV-Bezieher sowie Empfänger der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung einen Ernährungszuschlag von monatlich 100 Euro“ gebe. „Das betrifft gerade Familien, deren Kinder bislang in öffentlichen Tageseinrichtungen ein kostenloses Mittagessen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket erhielten und jetzt zu Hause verpflegt werden müssen“, so Butterwegge. Zudem forderte er den Ausbau der sozialen Infrastruktur sowie die Verbesserung der Betreuung und der medizinischen Behandlung von Obdachlosen. „Die kommunalen Sozialdienste sind systemrelevanter denn je, stehen aber für unabsehbare Zeit unter einem gewaltigen Druck“, so der Politikwissenschaftler.

Ausgewogene Ernährung sicherstellen

Ähnliche Forderungen erhebt der Paritätische Wohlfahrtsverband. Die Regelsätze sollten sofort um 100 Euro pro Monat und Haushaltsmitglied erhöht werden, „um insbesondere eine ausgewogene Ernährung sicherzustellen“. Daneben forderte der Verband eine Einmalzahlung von 200 Euro für „coronakrisenbedingte Mehraufwendungen“, etwa Arzneimittel oder erhöhte Energiekosten. Alle Leistungskürzungen, etwa durch Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher, müssten sofort beendet werden. „Die Regelsätze in Hartz IV und der Altersgrundsicherung sind so kleingerechnet, dass man mit ihnen nicht anständig über den Monat kommt. Es sind Armutssätze“, kritisierte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, Ulrich Schneider. Die Tafeln und die kostenlose Verpflegung in Schulen und Kitas habe sich „für viele längst zum notwendigen Baustein der Grundversorgung entwickelt“ – und fielen nun weitgehend aus.

Anmerkungen:

1.) Christoph Butterwegge ist ein deutscher Politikwissenschaftler und Armutsforscher, Verfasser zahlreicher Bücher zum Thema Armut. Sein jüngstes Werk trägt den Titel „Die zerrissene Republik“.

Weitere Informationen zum Autor Christoph Butterwegge und seinem Werk:

„Die zerrissene Republik – Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“, Beltz-Juventa 2020, 414 Seiten, Hardcover, 24,95 Euro, ISBN 978-3-7799-6114-7

Aus dem Inhalt:

Der Autor: Definitionen, Dimensionen und Diskussionen über Grundlagen der gesellschaftlichen Ungleichheit Untersuchungen zur (west)deutschen Sozialstruktur zwischen seriöser Empirie und purer Ideologie. Die historische Entwicklung der Sozialstruktur; Helmut Schelskys „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“; Ralf Dahrendorfs „industrielle Klassengesellschaft“; Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas, Claus Offe und Herbert Marcuse; Ulrich Beck und die Fiktion eines „sozialen Fahrstuhl-Effekts“ in der „Risikogesellschaft“; Gerhard Schulze und Peter Gross: Milieuvielfalt in der „Erlebnis-“ und der „Multioptionsgesellschaft“; Heinz Bude, die soziale Exklusion und das Prekariat; Oliver Nachtwey und sein „Rolltreppen-Effekt“ in der „Abstiegsgesellschaft“; Die neue Klassenstruktur in Andreas Reckwitz’ „Gesellschaft der Singularitäten“

Sozialstrukturentwicklung und Diskurskonjunkturen der Ungleichheit

Währungsreform, Westintegration und „Wirtschaftswunder“; Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ und die gesellschaftliche Wirklichkeit; Rezession 1966/67, „Ölkrise“ 1973 und Weltwirtschaftskrise 1974/75; Mehr Gleichheit auf einem niedrigeren Wohlstandsniveau: Staatssozialismus à la DDR; Die „neue Unterschicht“ und das „abgehängte Prekariat“ als Bodensatz der Gesellschaft? Existenz-, Verlust- und Zukunftsängste des Durchschnittsbürgers: Erosion der Mittelschicht? Refeudalisierung der Sozialstruktur und/oder Rückkehr der Klassengesellschaft? Papst Franziskus und Thomas Piketty: Ungleichheit im Visier der Medienöffentlichkeit; Jens Spahns „Tafel“-Interview, Kevin Kühnerts Sozialisierungsforderung und die Antwort der CDU auf Rezos Video

Erscheinungsformen der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit

Konzentration des Privatvermögens und Polarisierung der Einkommen; Produktion, Reproduktion und/oder Legitimation der sozioökomischen Ungleichheit durch das Bildungssystem? Gesundheitliche Ungleichheit

Entstehungsursachen und Entwicklungstendenzen der Ungleichheit: Prekarisierung, Pauperisierung und Polarisierung

US-Amerikanisierung der Gesellschaft als Leitmotiv des Neoliberalismus; US-Amerikanisierung des Arbeitsmarktes; US-Amerikanisierung des Wohlfahrtsstaates; US-Amerikanisierung der Steuerpolitik; Verschärfung der Ungleichheit durch die globale Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise?

Konturen und Perspektiven einer zerrissenen Republik

US-Amerikanisierung der Sozialstruktur; US-Amerikanisierung der Raum-, Regional- und Stadtentwicklung; US-Amerikanisierung des sozialen Klimas und der politischen Kultur; Sozioökonomische führt zu politischer Ungleichheit: Demokratie in der Krise? Rechtspopulismus oder Wie der Zorn die Republik zerreißt; Zukunftsaussichten einer zerrissenen Republik: Alternativen zur wachsenden Ungleichheit

Weitere Informationen zum Autor:

Prof. Dr. Christoph Butterwegge war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2016 Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln und 2017 Kandidat der Linkspartei bei der Bundespräsidentenwahl. Er setzt sich intensiv mit den Themen Globalisierung, Neoliberalismus, Sozialstaat und Armut, Rechtspopulismus und demografischer Wandel auseinander

Weitere Informationen im Internet:

https://www.beltz.de/fachmedien/sozialpaedagogik_soziale_arbeit/buecher/produkt_produktdetails/42606-die_zerrissene_republik.html

https://www.beltz.de/fileadmin/beltz/produktflyer/978-3-7799-6114-7.pdf

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