„Um den NSU-Untersuchungsausschuss in Baden-Württemberg ist ein gnadenloser Machtkampf entbrannt“ – Kommentar des Journalisten Thomas Moser

Die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten sich: Erst sollte die Aufklärung des Polizistenmordes von Heilbronn, Mord Nummer zehn im NSU-Komplex, mittels der Ermittlungsgruppe Umfeld des Landeskriminalamtes (LKA) verhindert werden, dann mittels einer Enquête-Kommission im Landtag, nun durch einen Untersuchungsausschuss selber.

Kommentar von Thomas Moser, Freier Journalist aus Berlin

Auf einmal scheinen alle Zweifel beseitigt

Am 4. Mai 2015 nahm der Ausschuss den Tatort Theresienwiese in Heilbronn in Augenschein und ließ sich vom LKA-Vertreter Axel Mögelin Ermittlungsergebnisse schildern – und auf einmal scheinen alle Zweifel beseitigt. Der Mordanschlag auf die Polizistin Michèle Kiesewetter und ihren Kollegen Martin Arnold geschah doch so, wie es die Bundesanwaltschaft behauptet: Allein durch zwei Täter. Beispielhaft für das fast einhellige Presseecho die kleine taz-Schwester Kontext: „Ein einziger Spaziergang von gut zwei Stunden hat den baden-württembergischen NSU-Untersuchungsausschuss einer Lösung seiner Aufgabe nähergebracht, die Umstände der Ermordung von Michèle Kiesewetter aufzuhellen. Die Begehung der Heilbronner Theresienwiese konnte die bisherige Zwei-Täter-Theorie der ermittelnden Behörden nicht erschüttern. Eher im Gegenteil.“

Medien, die Sprachrohre der Offiziellen werden

Tatsächlich hat sich ein gnadenloser Machtkampf in und um diesen Untersuchungsausschuss entwickelt, der wenig Spielraum lässt. Zunächst: LKA-Mann Axel Mögelin, letzter Leiter der SoKo Parkplatz, verfälscht und manipuliert die Ermittlungsergebnisse seines eigenen Amtes. Er gibt Zeugenaussagen nicht korrekt wieder und verneint die Einschätzungen, zu denen die Kriminalbeamten vor dem November 2011 gekommen waren. Vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss sprach er im September 2012 selbst von korrespondierenden Zeugenaussagen, die nahelegen, dass vier bis sechs Täter an dem Überfall beteiligt waren. Heute stellt er das in Abrede. Damals wollte die SoKo Parkplatz drei Phantombilder zur Fahndung herausgeben. Die Angaben der Zeugen erschienen den Ermittlern stimmig und glaubhaft. Jetzt qualifiziert Mögelin die Aussagen dieser Zeugen ab und bestreitet ihren Wert. Mögelin leugnet Mögelin, könnte man dazu sagen. Offensichtlich hat sich das LKA entschieden, entwertet seine eigene Arbeit und unterwirft sich wider besseres Wissen den Vorgaben von Bundesanwaltschaft und Landesinnenministerium. Danach waren die Täter allein Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Und das, obwohl Bundeskriminalamt (BKA) und LKA in ihren Ermittlungen nach 2011 zu dem Ergebnis kamen: „Ein eindeutiger Nachweis, dass Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos am Tattag in unmittelbarer Tatortnähe in Heilbronn waren, konnte bislang nicht erbracht werden.“ (Ermittlungsbericht BKA, Oktober 2012)

Vier Streifenwagen wurden gesehen

LKA-Vertreter Mögelin hat bei dem Ortstermin in Heilbronn aber nicht nur Spuren tendenziös präsentiert, er hat auch wichtige Spuren und Zeugenaussagen verschwiegen. Zum Beispiel, dass vier Zeugen unabhängig voneinander zwischen 13.20 Uhr und 13.50 Uhr, zum Teil nur wenige Minuten vor dem Anschlag, an vier Stellen auf und an der Theresienwiese vier Streifenwagen gesehen haben. Kiesewetter und Arnold waren zu den Zeitpunkten noch nicht am späteren Tatort. Es sind Spuren, die in die Reihen der Polizei hineinführen und die von den Ermittlern nicht weiterverfolgt wurden. Offensichtlich sollen sie es auch heute noch nicht.

Vertuschungsabsicht 2015 stärker als 2012

Die Entwicklungen lassen nur einen Schluss zu: Der Wille im Sicherheitsapparat, die Aufklärung der NSU-Mordserie zu verhindern, ist größer geworden, die Vertuschungsabsicht 2015 stärker als 2012. Das muss zu denken geben.

Über eigene Aufdeckungswirkung regelrecht erschrocken?

Der Ausschuss hatte in seinen ersten Sitzungen atemberaubende Enthüllungen gezeitigt. Stichwort: Todesfall Florian H. und die unterlassenen Ermittlungen. Dann der plötzliche Tod der 20-jährigen Melisa M., ehemals Freundin von Florian H., die im Ausschuss als Zeugin gehört worden war. Doch nach den letzten Sitzungen musste man den Eindruck gewinnen, dass der Ausschuss zumacht. Es scheint, als ist er über seine eigene Aufdeckungswirkung regelrecht erschrocken. Nun wird konservativ gefragt, es wird nicht zu Ende gefragt, es werden vorschnell Schlüsse im Sinne der Behörden gezogen, es werden die nötigen Akten nicht angefordert, es wird akzeptiert, dass Akten nur schleppend geliefert werden, und es werden die Regelungen des Geheimschutzes akzeptiert (lediglich Einsichtnahme in Akten, keine Kopien), aufgestellt von Behörden, die doch eigentlich Untersuchungsgegenstand des Ausschusses sind.

Akten kamen erst sehr spät

Mehr als drei Monate hat es gedauert, ehe die Ermittlungsakten des LKA zum Mordfall Heilbronn den Ausschuss erreichten. Den Fall Arthur C. mussten die Abgeordneten ohne Kenntnis dieser Akten behandeln. Die Akten zur V-Frau „Krokus“ bekamen sie ganz kurz vor dem entsprechenden Sitzungstag vom 27. April, nämlich am Freitag, 24. April. Das grenzt an Sabotage. Doch der Ausschuss blieb klaglos. Dabei kann er auch anders. Am 7. Mai hat der Vorsitzende Wolfgang Drexler per Pressemitteilung Hajo Funke ultimativ aufgefordert, die Beweismittel im Falle Florian H. (Notebook, Handy, Camcorder) bis zum 22. Mai dem Ausschuss zu übergeben. Ein kalkulierter Affront. Von einer ähnlichen öffentlichen Aufforderung beispielsweise gegenüber Innenminister Reinhold Gall hat man bisher nichts vernommen.

Tendenziöser und unbestimmter Vorabbericht

Seit sechs Wochen, seit dem Tod am 28. März 2015, dauert die Obduktion von Melisa M. nun schon an, ohne dass man ein Ergebnis erfährt. Kritik an dem tendenziösen und unbestimmten Vorabbericht („…dürfte [!] sich aus dem unfallbedingten Hämatom im Knie ein Thrombus gelöst und die Embolie verursacht haben“) wies der Ausschussvorsitzende zurück.

Frontmann gegen die Aufklärung ist Nikolaos Sakellariou

Als Frontmann gegen die Aufklärung und für die offizielle Version erweist sich immer mehr der SPD-Abgeordnete Nikolaos Sakellariou. Dabei ist er doch nur konsequent. Drei Jahre lang kämpfte er energisch gegen einen Untersuchungsausschuss an, lobte 2014 den oberflächlichen und mangelhaften Bericht der EG Umfeld, besser könne es ein Untersuchungsausschuss nicht machen und verstieg sich dabei zu der entlarvenden Aussage, so wörtlich: „Der Bericht der EG Umfeld ist gerade deshalb so gut, weil er nicht alle Fragen beantwortet.“ Dass ausgerechnet er nun trotzdem Obmann in diesem Ausschuss ist, könnte man als Treppenwitz verstehen, besser aber als die programmatische Infragestellung des Gremiums.

Sakellariou traute sich nicht, Journalisten kritische Fragen zu stellen

Was sich Sakellariou nach dem Tatorttermin in Heilbronn erlaubt, ist an Dreistigkeit nicht zu überbieten. Auch für ihn ist nach der Besichtigung der Theresenwiese die Zwei-Täter-Theorie belegt. Mehr noch: Er kritisiert den Bundestags-UA, der hätte doch auch nach Heilbronn kommen sollen, dann wäre er womöglich zu einer ähnlichen Einsicht gelangt. Da wohnt dieser Mann nur wenige Kilometer vom Tatort entfernt in Schwäbisch Hall und hält es acht Jahre lang nicht für nötig, auch nur ein Mal zur Theresienwiese zu gehen. Da argumentiert er Jahre lang, sozusagen ignorant und unkundig, gegen einen Untersuchungsausschuss an und greift dann Abgeordnete an, die engagiert und lange vor ihm taten, was er nun vorgibt zu tun. Einige der MdBs waren übrigens vor Ort in Heilbronn, auch mehrfach. Es scheint zur Methode Sakellariou zu gehören, einfach mal etwas anderes zu behaupten. Wenn er dann noch mit Blick auf die Journalisten, die als Sachverständige vor dem Ausschuss ausgesagt haben, (u.a. der Autor dieses Textes) erklärt, er hätte uns andere Fragen gestellt, wenn er vorher schon mal in Heilbronn am Tatort gewesen wäre, dann argumentiert der urplötzliche Aufklärer nicht nur mit seiner eigenen Inkompetenz, sondern auch mit seiner Feigheit. Er hat sich schlicht nicht getraut, kritische Fragen an uns zu stellen.

Staatsanwalt Meyer-Manoras intrigierte gegen Ermittler

Was soll Nikolaos Sakellariou in diesem Ausschuss? Neben ihm müsste mindestens auch Ulrich Goll, FDP, aus dem Gremium zurückbeordert beziehungsweise der Rücktritt nahegelegt werden. Auch Goll hat sich lange Zeit entschieden gegen diesen UA ausgesprochen. O-Ton im Februar 2014 bei der Vorstellung des EG Umfeld-Berichtes: „Natürlich sind nicht alle Rätsel gelöst – sie können wahrscheinlich auch nicht gelöst werden.“ Vor allem aber: Wie soll er sein eigenes früheres Regierungshandeln aufarbeiten? Denn Goll war zum Zeitpunkt des Kiesewetter-Mordes Justizminister von Baden-Württemberg und damit Dienstherr des verantwortlichen Staatsanwaltes von Heilbronn, Christoph Meyer-Manoras, der die Ermittlungen sabotierte. Meyer-Manoras verweigerte die Veröffentlichung von Phantombildern für die Fahndung, verhinderte die Sicherstellung des privaten E-Mailverkehrs von Michèle Kiesewetter und traf sich an den offiziellen Ermittlungen der SoKo Parkplatz vorbei mit dem Anschlagsopfer Martin Arnold, um gegen die Ermittler zu intrigieren. Die Unterdrückung der Phantombilder hatte den Segen des Generalstaatsanwaltes von Stuttgart, Klaus Pflieger.

Ex-Generalstaatsanwalt müsste vernommen werden

Neben Staatsanwalt Meyer-Manoras (Zeuge am 22. Mai 2015 in Stuttgart), müssten der frühere Generalstaatsanwalt Pflieger sowie der frühere Justizminister Goll als Zeugen vom Ausschuss vernommen werden. Ausschussmitglied Matthias Pröfrock, CDU, wollte den Innenminister als Zeugen hören. Er kann sich beweisen: Ist er auch dafür, den damals verantwortlichen Justizminister zu hören?

Auseinandersetzung mitten in den Ausschuss hinein

Schon im Bundestags-UA hatte sich ein Machtkampf zwischen Parlament und Exekutive um die Aufklärung der Hintergründe des NSU-Mordkomplexes entwickelt, wie nun im UA von Baden-Württemberg. Der Unterschied ist: im Bundestag standen die Obleute aller Fraktionen gemeinsam und geschlossen gegen die Exekutive – in Stuttgart aber führt die Auseinandersetzung mitten in den Ausschuss hinein. Dort hat die Exekutive ihre Vertreter sitzen – Aliens, die in ihrem Interesse operieren und den wahren Auftrag dieses Gremiums verraten.

Der Artikel in Kontext:Wochenzeitung vom 6. Mai 2015:

http://www.kontextwochenzeitung.de/schaubuehne/214/nsu-ausschuss-auf-tatortbegehung-ein-stimmigeres-bild-2868.html

Informationen im Internet über Thomas Moser:

https://machtelite.wordpress.com/2013/05/05/warum-setzte-wdr-5-beitrag-uber-nsu-ausschuss-ab/

http://www.kritische-polizisten.de/pressemitteilungen/2013-10-12-0-Zensur_Kontext.html

Ein Artikel von Thomas Moser über den Münchner Prozess und den NSU-Mord Nummer 9 in Kassel:

Ein Verfassungsschützer am Tatort und eine Anklagebehörde, die Akten unterdrückt. Jeder der zehn Morde, die dem NSU-Trio angelastet werden, birgt ein besonderes Geheimnis. So auch das neunte Verbrechen im April 2006 an einem deutsch-türkischen Internetcafé-Betreiber in Kassel: Warum war ein Verfassungsschützer am Tatort? Vor dem OLG in München wurde vier Tage lang darüber verhandelt. Es war erst der Anfang, denn vor allem die Bundesanwaltschaft weiß mehr, als sie preisgibt.

Von Thomas Moser, Freier Journalist, Berlin

In seinem Internetcafé mit zwei Kopfschüssen getötet

Am 4. April 2006 wurde der achte Mord an Mehmet Kubasik in Dortmund verübt. Zwei Tage später, am 6. April, folgte der neunte in Kassel. Der 21jährige Halit Yozgat wurde gegen 17 Uhr in seinem Internetcafé mit zwei Kopfschüssen getötet. Der zweite Schuss wurde auf das am Boden liegende Opfer abgefeuert. Die Tatwaffe war eine Pistole der Marke Ceska. Sie wurde im November 2011 im Brandschutt der Wohnung in Zwickau gefunden, wo das Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe gelebt hatte. Bei allen neun Morden wurde die Ceska verwendet.

Während der Tat waren nachweislich noch mindestens fünf Menschen in dem Laden:

Der Iraker Amadi S., der in einer Zelle von 16:54 bis 17:03 Uhr telefonierte, wie die Auswertung der Computeranlage ergab. Seltsam: Er ist bisher nicht als Zeuge zum Prozess in München geladen. Warum nicht, können selbst die Opferanwälte nicht beantworten. Die Türkin Hediye C. saß damals mit einem Kleinkind im sogenannten Familienraum und telefonierte. Die Jugendlichen Emre E. und Ahmed T. surften im hinteren Raum im Internet. Ahmed T. ist als Zeuge geladen, erscheint aber nicht. Warum, bleibt unklar. Die sechste Person in dem Laden war der Beamte des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz Andreas Temme. Er hatte sich um 16:51 Uhr im hinteren PC-Raum ein- und kurz vor 17:02 Uhr ausgeloggt. Wenige Minuten nach 17 Uhr fand der Vater, Ismail Yozgat, seinen Sohn hinter dem Tresen auf dem Boden liegen. Er wollte ihn um 17 Uhr ablösen und hatte sich verspätet. Durch seine Schreie kamen die Kunden dazu. Alle gaben später an, kurz vorher ein dumpfes Geräusch gehört zu haben, so, als ob etwas zu Boden fällt. Nur der Verfassungsschützer Temme war nicht mehr da. Er hatte das Geschäft verlassen.

Die Straße soll Halit-Yozgat-Straße heißen

Ismail Yozgat, 58 Jahre, schildert vor Gericht, wie er seinen toten Sohn fand. Ein Vater, dessen Herz gebrochen ist. Er schreit seinen Schmerz hinaus. Er erlitt in der Folge einen Herzinfarkt und ist heute Frührentner. Am 8. April hat er Geburtstag, am Tag nach dem Todestag seines Sohnes. Er wird ihn nie mehr feiern, sagt er. Sein Sohn ist in der Holländischen Straße in Kassel 1985 geboren und dort gestorben. Er hat nur noch einen Wunsch: dass die Straße Halit-Yozgat-Straße heißen soll. Die Mutter, Ayse Yozgat, wendet sich an die Angeklagte Beate Zschäpe und bittet sie zu reden und alle Vorfälle aufzuklären. Seit sieben Jahren könne sie nicht mehr richtig schlafen.

Praktisch unmöglich

Der Verfassungsschützer Temme ist die Schlüsselfigur. Warum war er am Tatort? Zufall? Hatte er das Internetcafé kurz vor der Tat verlassen oder war er noch da?, so wie die anderen fünf Besucher. Soll er dann beim Gehen das Opfer tatsächlich nicht bemerkt haben? Vor dem Oberlandesgericht schildert Andreas Temme als Zeuge seine Version. Er tut das nicht zum ersten Mal, sagte schon vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in Berlin aus und gab Fernsehinterviews. Am 6. April 2006 chattete er knapp elf Minuten lang auf der Kontakt-Webseite I love.de. Nach 17:01 h loggte er sich aus und fuhr das Programm herunter. Er wollte zahlen, sah den Besitzer nicht, ging auf die Straße, kehrt zurück, ging nach hinten, wo die Toiletten sind und wieder nach vorne. Weil Halit Yozgat nicht da gewesen sei, legte er ein 50 Centstück auf den Tresen und verließ das Lokal. Sein Auto parkte davor. Temme will nichts gesehen, gerochen oder gehört haben, was mit dem Mord in Zusammenhang stand. Auch kein dumpfes Fallgeräusch. Und auf der Straße niemand, der sich näherte. Für die Version des Verfassungsschützers bleibt ein Spielraum von vielleicht 20, 30 Sekunden für die Verübung des Mordes bis zum Erscheinen des Vaters. Das ist praktisch unmöglich.

Hat der Verfassungsschützer etwas mit der Tat zu tun?

Wenn Temme nicht selbst der Mörder war, was die Staatsanwaltschaft ausschließt, muss er, auch wegen seiner Körpergröße von 1.90 Meter, zumindest das Opfer hinter dem Tresen liegen gesehen haben. Davon gingen auch die Ermittler aus. Dann aber war sein Weggehen eine Flucht, und er hätte etwas mit der Tat zu tun. Wo soll der Ladenbesitzer Halit Yozgat zwischen 17:01 und 17:03 Uhr gewesen sein, als Temme ihn gesucht haben will und ging? Halit wartete darauf, dass er jeden Moment von seinem Vater abgelöst wird. Er musste pünktlich weg, weil er einen Termin auf der Abendrealschule hatte. Immer, wenn er sich verspätete, sagt Ismail Yozgat vor Gericht, sei sein Sohn schon in der Tür gestanden.

Zunächst unter Tatverdacht

Der Mord geschah an einem Donnerstag. Der LfV-Beamte Temme hatte für Freitag frei genommen, er stand zusammen mit seiner schwangeren Frau vor einem verlängerten Wochenende. Von dem Mord will er erst am Sonntag erfahren haben. Am Montag ging er normal zum Dienst und meldete sich nicht als Zeuge. Das muss man als Verdunkelung werten. Die Ermittler kamen ihm auf die Spur und nahmen ihn zwei Wochen später, am 21. April, fest. Er stand zunächst unter Tatverdacht. Das Ermittlungsverfahren wurde im Januar 2007 aber eingestellt.

Richter: Wollten Sie sich raushalten, aus welchen Gründen auch immer?

Warum hat er sich nach dem Mord nicht gemeldet? Temme gibt sich zerknirscht. Er habe Angst vor dienstlichen Konsequenzen gehabt, denn in der Nähe gebe es ein Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes, dort soll man eigentlich nicht auftauchen. Und er habe sich geschämt, weil er chattete, obwohl er jung verheiratet war und sie ihr erstes gemeinsames Kind erwarteten. Sein Auftritt ist ein Abbild von dem vor dem Berliner Untersuchungsausschuss im September. Wie damals stockt ihm auch jetzt die Stimme, er schluckt und redet scheinbar bewegt. Den vorsitzenden Richter Manfred Götzl beeindruckt das nicht. Er insistiert darauf, plausibel erklärt zu bekommen, warum ein Staatsbeamter sich derart verantwortungslos verhält. „Wollten Sie sich raushalten, aus welchen Gründen auch immer?“, fragt er. „Nein“, antwortet der, „wenn ich etwas wahrgenommen hätte, hätte ich das mitgeteilt.“ Und weiter: „Es war falsch, mich nicht zu melden. Ich glaube, ich habe mir meine Angst eingeredet. Ich verstehe mich ja selber nicht. Ich frage mich das seit sieben Jahren.“ Andreas Temme muss sich selbst erniedrigen, er muss diese Rolle spielen, um die wahrscheinlich wirklichen Hintergründe seiner Anwesenheit während eines Mordes zu verschweigen.

Kontakte gingen nach der Suspendierung weiter

Der Ex-Verfassungsschützer, Arbeitsname „Alexander Thomsen“, führte damals sechs Quellen – fünf im Bereich Islamismus und eine im Bereich Rechtsextremismus. Der V-Mann dort hieß Benjamin Gärtner (Quelle „GP 389“). Am Tattag telefonierte Temme zweimal mit ihm, mittags und etwa eine Viertelstunde nach der Tat. Inhalt unbekannt. Vier Tage nach der Tat traf er sich mit ihm, angeblich nur, um ihm seinen Agentenlohn zu geben. Von der VS-Arbeit Temmes und der Verbindung mit dem V-Mann Benjamin G. kennt die Öffentlichkeit bisher nur Bruchstücke. Von den Treffs im Jahre 2006 existieren keine Berichte. Bemerkenswert: die Kontakte zwischen Temme/Thomsen und Gärtner gingen auch nach der Suspendierung des Verfassungsschützers weiter, telefonisch, festgestellt bei Telefonüberwachungen Temmes. Und auch mit der Quelle „GP 389“ arbeitete das Amt nach dem Ausscheiden Temmes zunächst weiter. Sie soll 2006 dann abgeschaltet worden sein. Nebenkläger haben beantragt, Benjamin G. selbst als Zeugen in München zu hören.

Von zahlreichen V-Leuten durchsetzt

Benjamin Gärtner war schon V-Mann, als ihn Temme im Jahr 2003 übernahm. Er hatte Kontakt zur Kasseler rechten Szene, aber auch nach Thüringen und war 2001 bei einer Aktion des Thüringer Heimatschutzes (THS) in Eisenach festgenommen worden. Das war im Untersuchungsausschuss in Berlin zu erfahren. Zum rechtsextremen THS zählten auch Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sowie die in München Angeklagten Ralf Wohlleben, Carsten Schultze und Holger Gerlach. Der THS war unter starker Mitwirkung des Verfassungsschutzes geschaffen worden und von zahlreichen V-Leuten durchsetzt. Ein führender Aktivist war der V-Mann Tino Brandt. Der Thüringer Verfassungsschutz wurde vom hessischen aufgebaut. Aus dem Thüringer Heimatschutz ging das spätere NSU-Netzwerk um Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe und Wohlleben hervor.

Quellenschutz vor Aufklärung eines Mordes

Fragwürdig auch das Verhalten der Amtsleitung, nachdem sein Mitarbeiter in Tatverdacht geriet. Während des Ermittlungsverfahrens trafen sich sowohl seine Vorgesetzte der Dienststelle Kassel als auch der LfV-Präsident Lutz Irrgang persönlich mit Temme. Das Treffen mit der Vorgesetzten fand nicht im Dienstgebäude statt, sondern in einer Autobahnraststätte, quasi konspirativ, denn es sollte nicht von der Polizei abgehört werden können. Die Inhalte der Gespräche sind nicht bekannt. Den ermittelnden Kriminalbeamten wurde die Vernehmung der Quellen Temmes untersagt – verantwortlich: der damalige Innenminister von Hessen und heutige Noch-Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU). Quellenschutz vor Aufklärung eines Mordes, so die Maßgabe.

Demonstration von Migrantenfamilien: „Kein zehnter Mord!“

Die Ermittlungen gegen den Verfassungsschützer Temme umfassen 35 Aktenordner. Sie liegen dem Gericht nicht vor, sondern befinden sich bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe. Nach dem Auffliegen des Terrortrios im November 2011 übernahm sie das Verfahren. Noch nach dem Doppelmord im April 2006 an Mehmet Kubasik in Dortmund und Halit Yozgat in Kassel hatte sich die Behörde geweigert, die Ermittlungen zu übernehmen, obwohl bei allen neun Morden die selbe Ceska-Pistole benutzt wurde und der Zusammenhang bekannt war. Im Mai 2006 kam es in Kassel zu einer Demonstration von Migrantenfamilien unter dem Motto „Kein zehnter Mord!“ Doch die oberste Anklagebehörde schloss rechtsextreme und fremdenfeindliche Tatmotive aus und sprach von einem privaten Rachefeldzug eines Einzeltäters.

Hi, Alex, ich bin’s, Benny“

Nach dem November 2011 wurden sämtliche Ermittlungen der zehn Morde überprüft – auch die 35 Ordner zum Verfassungsschützer Andreas Temme. Allerdings waren sie an mehreren Stellen geschwärzt, wie der BKA-Beamte Michael Stahl vor dem Gericht zugeben muss. Auch, ob die Akten vollständig sind, kann er nicht sagen. Allem Anschein nach fehlten Unterlagen aus der Telefonüberwachung. Und auch die damaligen Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Kassel gegen Temme liegen dem Gericht nicht vor. Mehrere Nebenklägeranwälte stellen den Antrag, alle diese Akten zum Prozess beizuziehen. Sie beklagen ein „Minus an Kenntnissen“ gegenüber der Bundesanwaltschaft. Deren Vertreter widersprechen. In den Akten gebe es keine Anhaltspunkte für eine Tatbeteiligung oder Hintergründe der Tat. Und auch zum Schutz der Persönlichkeitsrechte von Herrn Temme sollten sie nicht ins Verfahren eingeführt werden. Schließlich gäben sie Einblick in dessen Privatleben. Zum Beweis, dass die Akten doch wichtig sind, zitiert Rechtsanwalt Thomas Bliwier, der die Familie Yozgat vertritt, schließlich aus einem Protokoll der Telefonüberwachung Temmes. Ein Anruf von V-Mann Benjamin Gärtner auf dem Handy Temmes, den er nur unter seinem Tarnnamen Alexander Thomsen kannte. Auf der Mailbox hinterließ er den Satz: „Hi, Alex, ich bin’s, Benny. Es ist Post angekommen. Wenn du dein Handy anmachst, kannst du ja mal anrufen.“ Datum 28. April 2006, eine Woche nach der Festnahme seines VP-Führers.

BMI-Vertreter im Publikum „Rein privat“ dabei

Andreas Temme wird zu einem späteren Zeitpunkt erneut vernommen werden. Bleibt noch zu vermelden, dass im Publikum an diesem Tag zwei Ministerialbeamte aus dem Bundesinnenministerium sitzen, die als offizielle BMI-Vertreter die Sitzungen des NSU-Untersuchungsausschusses in Berlin begleitet haben. „Rein privat“, erklären sie, gefragt, ob sie dienstlich da seien.

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