„Lang beschattete Täler“ – Eine Fortsetzungsgeschichte von Birgit Häbich – Der Episoden zweiter Teil

„Lang beschattete Täler“ – Eine Fortsetzungsgeschichte von Birgit Häbich. Der Episoden zweiter Teil. Die geschilderten Handlungen, Personen und Namen sind frei erfunden. Es werden keine realen Namen von Personen angegeben. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten, lebenden oder toten Personen wären rein zufällig, und sind weder gewollt noch beabsichtigt.

Von Birgit Häbich

II Scham

… Carl Eugen blickte sich in Pauls Wohnzimmer um. Über dem Kästchen, auf dem das Telefon stand, hing eine Fotografie der Familie seines Freundes. Kein erfreuliches Bild aus guten Tagen – nein, es war eines, auf dem die gestorbene Ehefrau und Mutter der drei gemeinsamen Kinder von ihrer Krankheit deutlich gezeichnet war. Théo, der erstgeborene Sohn von Paul, saß rechts neben der Mutter. Gisléne, tief ins Sofa nach hinten eingesunken zwischen ihren Eltern – Yann, der zweitgeborene Sohn saß links außen neben Paul.

Erste Liebe

Das Foto sprach Bände über den Zwang unter dem sein Freund zu leiden hatte. Dem Arrangement nach zu urteilen, hatte die betagte Oma der Kinder dieses unglückliche Foto geschossen. Die beiden Elternteile hielten sich krampfhaft an einer Bibel fest. Diese Geste wirkte wie ein falscher Schwur, der Ausdruck von Pauls Augen ließ eher an einen Offenbarungseid, als an familiäres Glück denken. Paul hatte ihm auch von seiner erstgeborenen vorehelichen Tochter Sabine erzählt. Sie war das Zeugnis der ersten Liebe aus seiner Tübinger Studienzeit. Damals ließ Paul die schwangere Margret jedoch zugunsten von Lisa, der Mutter seiner drei nachgeborenen Kinder, sitzen. Carl fragte sich stirnrunzelnd, wie der Freund sich wohl damals aus dieser komplizierten Angelegenheit herausgewunden hatte. Und wie die Mutter seiner erstgeborenen Tochter mit dieser demütigenden Zurückweisung zurechtkam. Damals, in den Achtzigern, war es zwar keine Schande mehr, allein erziehende Mutter zu sein, aber hart wird es vermutlich trotzdem gewesen sein. Nachher würde er Paul danach fragen.

Tiefes Schamgefühl

Carl Eugen Friedner ließ seine Gedanken schweifen und blickte auf sein eigenes eheloses Leben zurück. Er hatte keine Kinder gezeugt, auch keine außerehelichen. Die weiblichen Wesen, die ihn längerfristig zu umgarnen versuchten, ließ er abblitzen und bis auf wenige nette folgenlose Amouren konnte er sich zu keiner tieferen Bindung an eine Frau durchringen. Die einzige Frau, die er je ganz für sich begehrte, war seine geliebte Paula. Dabei fiel ihm zum ersten Mal auf, dass die Namen seiner Geliebten und der des guten Freundes nahezu dieselben waren. Er musste lächeln, empfand er doch den charakterlichen Unterschied zwischen Paul und Paula als eine wohltuende Abwechslung. Carl Eugen Friedner freute sich über die Männer und Frauen mit denen er sich mittlerweile angefreundet hatte. Die alten Verbindungen waren verblasst – übrig geblieben war ein tiefes Schamgefühl darüber, sich so lange mit solchen gleichförmig üblen Charakteren umgeben zu haben.

Alleinherrscherin

Paul fing an hinter seinen Händen deutlich und tief zu atmen und streckte seinen Rücken wieder kräftig durch – er hatte sich nun leidlich gefangen und schien bereit zu sein, mit dem Freund zu sprechen. Carl schenkte sich erneut ein und wartete geduldig ab, ob der Freund bald etwas sagen würde. Paul nahm die Hände vom Gesicht und dann begann er leise zu erzählen. Davon, wie ihn seine Tochter nun schon jahrelang piesackte, ihn täglich bis aufs Blut reizte und etwa seit einem Jahr gar keine Grenze mehr akzeptierte, sich aufführte, als wäre sie die Alleinherrscherin über einen Hofstaat, in dem der Vater zum geringsten Vasall degradiert war. Er erzählte von ihren Forderungen nach geldwerten Zuwendungen und teuren Vergnügungen. Und davon, was sie veranstaltete, wenn Paul versuchte, ihr ein deutliches „Nein“ entgegenzusetzen, oder er gar anfing, vernünftig zu argumentieren. Das Mädchen machte ihm dann das Leben erst recht zur Hölle und schreckte mittlerweile auch nicht mehr davor zurück, ihn gezielt vor ihren Brüdern zu demütigen. Seine Söhne würden immer seltener zu Besuch kommen, seit Gisléne ihre üblen Spielchen auf diese unerträgliche Art und Weise ausweitete.

Schlechter Charakterzug

Es brach aus Paul hervor, dass seine letzte Freundin und Geliebte, Agnes, die er schmerzlich vermisste, genau diesen schlechten Charakterzug von Gisléne erkannte und seine mangelnde Grenzziehung dem Mädchen gegenüber deutlich beim Namen genannt hatte. Aber damals wollte er nichts davon wissen, Paul wollte seine Erziehung nicht kritisieren lassen und schon gleich gar nicht seine scheinbare Macht und seinen väterlichen Einfluss über seine heranwachsende Tochter in Frage stellen lassen. Die Beziehung zur geliebten Frau, die er ein Jahr nach dem Tod der Mutter seiner drei Kinder kennenlernte, sei mit daran gescheitert, dass er uneinsichtig darauf bestanden habe, seine Tochter auch weiterhin nachts mit zu sich ins Ehebett zu nehmen.

Sexuelles Selbstbestimmungsrecht

Agnes, die ihn damals sehr liebte, hatte lange Geduld mit ihm, konnte zeitweise sogar ein gutes Vertrauensverhältnis zu Gisléne herstellen, hoffte auf eine Änderung dieser absurden Familienverhältnisse. Als Paul nichts änderte und nur auf seinen hartherzigen unabänderlichen Vorstellungen beharrte, wandte Agnes sich irgendwann ab.
Er war ja auch nicht der einzige, der seine geschlechtsreife Tochter mit zu sich ins Bett nahm – viele der Eltern von Gislénes Klassenkameradinnen taten das auch. Diese Merkwürdigkeiten wurden weder in den finanziell privilegierten Elternkreisen, noch von der örtlichen christlichen Privatschule in Frage gestellt, sondern mit Nächstenliebe und Fürsorge bemäntelt. Und so fühlte Paul sich als Mann und Vater vollkommen im Recht und in der Pflicht, auch nachts über seine Tochter zu wachen. Obwohl er hier in Baden-Württemberg studiert hatte und Jahre später in Berlin seinen Doktortitel erworben hatte, fiel es ihm dabei gar nicht auf, dass er damit nicht nur gegen die lang erkämpfte Wertvorstellung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts handelte, sondern er unter Umständen auch direkt auf einen Straftatbestand zusteuerte.
Nicht auszudenken, was wäre, wenn es aufgrund eines kleinen Funkens im nächtlichen gemeinsamen Lager zu einem Feuer zwischen Vater und Tochter kommen sollte … Fortsetzung folgt.

Kontaktaufnahme zur Autorin ist möglich unter der E-Mailadresse:

b.haebich@web.de

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