„Jedes Kind muss lesen lernen“ – Ein Beitrag von Kirsten Boie

Die Kinderbuchautorin Kirsten Boie fordert mit ihrer Petition „Hamburger Erklärung“ eine Veränderung der Bildungspolitik: mehr und frühere Leseförderung, fachlich ausgebildete Lehrkräfte und niedrigschwelliger Zugang zu Büchern. Hier schreibt sie über die Relevanz des Vorlesens, den Sinn von Förderungsprojekten und die Grenzen des Bildungssystems.

Ein Beitrag von Kirsten Boie aus der Kundenzeitschrift der Büchergilde Gutenberg

Ich bin Autorin, ich schreibe für Kinder, und ich möchte Ihnen von Situationen erzählen, wie ich sie bei Lesungen regelmäßig erlebe.

Eine vierte Klasse in einem sogenannten benachteiligten Stadtteil, Kinder, die von ihrer Lehrerin auf die Lesung vorbereitet wurden und die gleich tapfer ruhig und ohne zu stören die folgende Stunde durchhalten werden. Ich beginne damit, dass ich ein Buch hochhalte. „Daraus möchte ich vorlesen!“, sage ich. „Kann mir denn irgendwer sagen, wie das Buch heißt?“ Konzentrierte Blicke, Lippen bewegen sich, z. T. leises Gemurmel. Dann gehen zwei, drei Finger zögerlich hoch. Sehr stockend wird der kurze Titel vorgelesen. Ich rede von Zehnjährigen. Ich rede von Zehnjährigen, die ganz sicher nicht dümmer sind als die Kinder in bildungsorientierten Stadtteilen, wo sich sofort fast alle melden, ohne vorheriges Buchstabieren, ohne Gemurmel. Das sind meine regelmäßigen Erfahrungen bei Lesungen.

18,9 Prozent der Zehnjährigen in Deutschland können nicht so lesen, dass sie auch verstehen, was sie lesen

Vielleicht mögen Sie ja schon gar nichts mehr davon hören: Schon seit zwei Jahren wissen wir, dass 18,9 Prozent der Zehnjährigen in Deutschland nicht so lesen können, dass sie auch verstehen, was sie lesen. Diese Zahlen sind das Ergebnis der Internationalen Grundschul-Lese-Studie (kurz IGLU) in 53 OECD-Ländern und werden von niemandem angezweifelt.

Die Kinder kennen die Buchstaben, sie können sie langsam und stockend zusammenziehen: Aber was in einem Text steht, können sie trotzdem nicht verstehen. Ihr Lesetempo ist so gering, dass das erste Wort eines Satzes längst aus ihrem Kurzzeitspeicher verschwunden ist, wenn sie das letzte Wort endlich entziffern – ähnlich wie bei einem der Info-Bänder, die bei Nachrichtensendern unter dem Bild entlanglaufen.

Für Kinder, die ständig Misserfolgserlebnisse haben und kaum eine qualifizierte Ausbildung durchlaufen können, sieht die Zukunft düster aus

Seit 2011 ist Deutschland bei IGLU von Platz 5 auf Platz 21 abgerutscht. Nun ist die Studie keine Olympiade, und solange für die betroffenen Menschen selbst und die Gesellschaft das Ergebnis ausreichend ist, müsste uns die Position im Ranking vielleicht nicht kümmern. Aber so ist es natürlich nicht. Dass für diese Kinder, die schon in der Sekundarstufe ständig Misserfolgserlebnisse haben und ein entsprechend negatives Selbstkonzept entwickeln werden, außerdem kaum eine qualifizierte Ausbildung durchlaufen können, die Zukunft düster aussieht, ist klar. Und auch für eine Gesellschaft, die jeden Herbst wieder händeringend nach ausbildungsfähigen Jugendlichen sucht und deren Export abhängt von innovativer Ingenieurkunst, ist es sicher nicht günstig, wenn ein Fünftel ihrer Menschen ihr schon mit zehn Jahren verloren geht. Anstatt in die Sozialversicherungssysteme einzuzahlen, werden sie, egal wie fleißig sie sind, Mittel daraus entnehmen müssen: Vernünftig bezahlte unqualifizierte Arbeit gibt es in Deutschland einfach nicht genug. Und auch für die Demokratie, das muss ich sicher nicht erklären, kann es fatal sein, wenn so viele Menschen sich abgehängt fühlen – und es de facto auch sind.

Was ist da also schiefgelaufen?

Wir können natürlich zuallererst auf die Bildungspolitik gucken, die in den letzten Jahren, trotz massiv steigender Geburtenzahlen, geradezu konsequent Studienplätze für Grundschullehrer abgebaut hat. In vielen Bundesländern übersteigt inzwischen bei den Neueinstellungen die Zahl der sogenannten „Quereinsteiger“ die der Lehrer, und nun bringen, neben Menschen mit abgebrochenem oder fachfremdem Studium, auch Bäcker, Klempner, Friseurinnen den Kindern das Lesen bei. An den Schulen wird sicher zum Teil noch mit Methoden unterrichtet, die, vorsichtig formuliert, nicht dem neuesten Stand der Forschung entsprechen.

Kinder aus benachteiligten Familien liegen in der Lesefähigkeit um zwei Jahre zurück

Entscheidend ist die Sprachkompetenz beim Schuleintritt

Aber die eigentlichen Ursachen liegen noch sehr viel tiefer und werden auch mit der überzeugendsten Schulpolitik allein kaum bewältigt werden können. In Deutschland hängt nämlich mehr als in jedem anderen bei IGLU untersuchten OECD-Land der Schulerfolg ganz entscheidend, fast möchte man sagen: so gut wie ausschließlich! – vom sozialen Hintergrund der Kinder ab. Zwischen Kindern aus benachteiligten Familien und denen, deren Eltern Akademiker, Techniker, Handwerksmeister sind, liegen tatsächlich zwei Jahre Abstand in der Lesefähigkeit. (Und nein, das betrifft nicht nur Migranten.) Ganz entscheidend ist hierbei die Sprachkompetenz beim Schuleintritt. Verfügt ein Kind nämlich nur über einen begrenzten Wortschatz und eine eingeschränkte Syntax, wird es jedes Wort buchstabieren müssen und kann es nicht, wie wir alle es tun, einfach aus einer Kombination von Kontext, Anfangsbuchstaben und Syntax in Hundertstelsekunden erschließen. Nur dadurch erreichen wir aber unsere Lesegeschwindigkeit – beobachten Sie sich einfach einmal selbst, wenn Sie jetzt diesen Text lesen.

Beim Vorlesen begegnen Kindern Begriffe und Satzstrukturen, auf die sie im Familienalltag kaum stoßen würden

Was können wir dagegen tun?

Ein ganz wichtiges Mittel, vielfach evaluiert, ist das regelmäßige Vorlesen. Beim Vorlesen begegnen Kindern Begriffe, auf die sie im Familienalltag kaum stoßen würden. Und auch die Satzstrukturen können um ein Vielfaches komplizierter sein als alles, was wir in der Alltagssprache verwenden. Außerdem gehört zum Vorlesen immer auch das gemeinsame Gespräch über die Geschichte – und auch da profitieren Vorlesekinder nicht nur sprachlich. Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wurde, kommen daher mit sehr viel besseren Voraussetzungen in die Schule als solche, denen ihr erstes Buch in der ersten Klasse begegnet. Dass das tägliche Vorlesen außerdem eine Situation besonderer Nähe schafft, muss ich nun nicht auch noch erklären.

Schönes Vorlesebuch

Im aktuellen Programm der Büchergilde finden Sie ein besonders schönes Vorlesebuch – mit Geschichten bekannter, aber auch weniger bekannter Autorinnen und Autoren, witzigen, spannenden, nachdenklichen Geschichten, dazu wunderschön illustriert. Für einige Vorleseabende gibt es da also ganz sicher genügend Stoff! Aber wenn es auch sicher sinnvoll ist, mit kurzen Texten anzufangen – bei den ganz Kleinen beim Bilderbuchgucken sogar noch mit Büchern ganz ohne Worte! –, so sollte das Vorlesen doch irgendwann auch darüber hinausgehen.

Was passiert da eigentlich in unserem Kopf?

Sie alle sind Leser, sonst hielten Sie dieses Magazin nicht in den Händen. Aber was ist es, das Sie zu Lesern macht? Was ist es, wenn wir einmal von Sachtexten und dem Wunsch nach Information absehen, das den Reiz am Lesen ausmacht? Warum lesen Sie, lesen wir, lesen Kinder Romane? Wir alle haben schon einmal diese doch eigentlich verrückte Erfahrung gemacht: Wir lesen ein Buch und hören nicht, dass wir gerufen werden, verpassen es, rechtzeitig den Herd auszuschalten, kämpfen mit den Tränen oder lachen laut auf. Und all das beim Blick auf eine Seite mit nichts als kleinen schwarzen Zeichen. Was passiert da eigentlich in unserem Kopf?

Ein Text rührt uns an und nimmt uns gefangen, weil wir – anders als beim Film – beim Lesen auf unseren eigenen Speicher zurückgreifen müssen

„Hier wacht Bosse aus Bullerbü auf!“

Dass ein Text uns emotional so anrühren, gefangen nehmen kann, hat einfach damit zu tun, dass wir – anders als beim Film, der uns ja immer schon die Bilder mitliefert – beim Lesen auf unsere eigenen Speicher zurückgreifen müssen, um uns etwas vorstellen zu können. Auf unsere Gefühlsspeicher, Erinnerungen an Landschaften, Menschen, Ereignisse. Wenn wir einen Text lesen, lesen wir darum eigentlich auch immer uns selbst. Und wir tauchen ein in die Welt der Geschichte, leben in ihr, wir identifizieren uns und schlagen uns deshalb die Nacht um die Ohren. Wir möchten nicht aufhören, bevor das Buch zu Ende ist und wir wissen, wie alles ausgeht. Genau das macht die Faszination des Lesens aus: dass wir für eine Weile in der Welt eines Buches leben. Deshalb sind gerade lange, dicke „Schmöker“ so beliebt. Und wenn der vierjährige Sohn einer Freundin aufwacht mit den Worten: „Hier wacht Bosse aus Bullerbü auf!“, dann zeigt das genau dieses Glück. Und dafür braucht es dann eben auch längere Texte, die uns dieses Eintauchen über Tage, manchmal Wochen, gestatten. „Jim Knopf“, „Die kleine Hexe“, „Die Mumins“ – ich selbst habe aus diesem Grund die „Ritter Trenk“- und die „Seeräuber-Moses“-Vorlese-Romane geschrieben oder „Vom Fuchs, der ein Reh sein wollte“. Es gibt zum Glück eine riesengroße Zahl spannender Bücher für Kinder.

Entgegenfiebern

Ganz sicher macht es also Sinn, bei jüngeren Kindern zunächst mit einzelnen Vorlesegeschichten zu beginnen, bei denen sie noch am selben Abend mit dem befriedigenden Gefühl einschlafen können: Alles ist gut ausgegangen. Irgendwann aber sollten auch Kinder die Erfahrung machen dürfen, über Tage dem weiteren Geschehen entgegenzufiebern.

Und das abendliche Drängen: „Bitte, bitte noch ein Kapitel! Nur noch eins!“, müssen die Eltern dann eben aushalten!

Kirsten Boie, geboren 1950 in Hamburg, studierte in Hamburg und Southampton und arbeitete lange Zeit als Lehrerin, bis sie ihr erstes Kinderbuch verfasste. Inzwischen sind rund 100 Kinder- und Jugendbücher von ihr erschienen und in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Neben Geschichten schreibt Kirsten Boie auch Vorträge und Aufsätze zu verschiedenen Aspekten der Kinder- und Jugendliteratur und der Leseförderung.

Weitere Informationen und Kontakt:

https://www.buechergilde.de/ueber-uns.html
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Coronavirus: »Die Agrarindustrie würde Millionen Tote riskieren.«

Das Coronavirus hält die Welt in einem Schockzustand gefangen. Ein Gespräch mit dem Evolutionsbiologe Rob Wallace über die Gefahren von Covid-19, die Verantwortung der Agrarindustrie und nachhaltige Lösungen zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten.

Interview von Yaak Pabst mit Rob Wallace in der Zeitschrift „marx21“

Evolutionsbiologe und Phylogeograf Rob Wallace

Yaak Pabst von der Zeitschrift „marx21“ hat ein Interview mit Rob Wallace geführt. Rob Wallace ist Evolutionsbiologe und Phylogeograf für das öffentliche Gesundheitswesen in den USA. Er arbeitet seit fünfundzwanzig Jahren an verschiedenen Aspekten neuer Pandemien und ist Autor des Buches »Big Farms Make Big Flu«.

Es folgen Auszüge aus diesem Interview. Es handelt sich um den Teil des Interviews, der sich mit den Ursachen des Corona-Virus befasst. Das gesamte Interview kann im Internet auf folgender Seite nachgelesen werden:

Yaak Pabst: In vielen Medien wird behauptet, der Ursprung des Coronavirus sei ein »exotischer Lebensmittelmarkt« in Wuhan gewesen. Stimmt diese Beschreibung?

Rob Wallace: Ja und nein. Es gibt räumliche Anhaltspunkte, die dafür sprechen. Die Rückverfolgung von Kontakten, die mit Infektionen in Verbindung stehen, führt zum Hunan-Großmarkt für Meeresfrüchte in Wuhan, wo auch Wildtiere verkauft werden. Stichproben haben offenbar das westliche Ende des Marktes, in dem die Wildtiere gehalten wurden, identifiziert. Aber wie weit zurück und wie weit sollten wir nachforschen? Wann genau hat der Ernstfall wirklich begonnen? Die Fokussierung auf den Markt übersieht die Ursprünge bei der Wildlandwirtschaft im Hinterland und ihre zunehmende Kommerzialisierung. Weltweit, und auch in China, wird Wildnahrung zunehmend zu einem formellen Wirtschaftssektor. Aber die Beziehung zur industriellen Landwirtschaft geht über das bloße Teilen desselben Geldbeutels hinaus. Da sich die industrielle Produktion – von Schwein, Geflügel und Ähnlichem – auf den Urwald ausdehnt, übt sie Druck auf die Erzeuger von Wildnahrungsmitteln aus, die weiter in die Wälder vordringen, um dort nach den Ursprungspopulationen zu suchen, wodurch sich die Schnittstelle zu neuen Krankheitserregern, einschließlich Covid-19, vergrößert und deren Ausbreitung verstärkt wird.

Covid-19 ist nicht das erste Virus, das sich in China entwickelt hat und das die Regierung zu vertuschen versuchte.

Ja, aber das ist kein chinesischer Sonderfall. Die USA und Europa haben auch als »Nullpunkte« für neue Vireninfektionen gedient, zuletzt H5N2 und H5Nx, und ihre multinationalen und neokolonialen Vertreter haben die Entstehung von Ebola in Westafrika und Zika in Brasilien angefacht. Und während der Ausbruch der Schweinegrippe (H1N1) im Jahr 2009 und der Geflügelpest (H5N2) schützten US-Gesundheitsbeamte die gesamte Agrarindustrie.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat jetzt einen »gesundheitlichen Notstand von internationaler Bedeutung« ausgerufen. Ist dieser Schritt richtig?

Ja. Die Gefahr eines solchen Erregers besteht darin, dass die Gesundheitsbehörden die statistische Risikoverteilung nicht in den Griff bekommen. Wir haben keine Ahnung, wie der Erreger reagieren könnte. Wir sind von einem Ausbruch auf einem Markt zu Infektionen gekommen, die sich innerhalb weniger Wochen über die ganze Welt verteilten. Der Erreger könnte einfach absterben. Das wäre großartig. Aber wir wissen es nicht. Eine bessere Vorbereitung würde die Chancen verbessern, die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Erregers zu unterbieten. Die Erklärung der WHO ist gleichzeitig ein Teil dessen, was ich als Pandemie-Theater bezeichne. Internationale Organisationen sind angesichts ihrer Untätigkeit zu Grunde gegangen. Da fällt mir der Völkerbund ein. Die Gruppe der UNO-Organisationen ist immer besorgt über ihre Bedeutung, ihre Macht und ihre Finanzierung. Aber ein solcher Aktionismus kann sich auch der tatsächlichen Vorbereitungen und der Prävention annähern, die die Welt braucht, um die Übertragungsketten von Covid-19 zu unterbrechen.

Die neoliberale Umstrukturierung des Gesundheitssystems hat sowohl die Forschung als auch die allgemeine Versorgung der Patientinnen und Patienten, zum Beispiel in Krankenhäusern, verschlechtert. Welchen Unterschied könnte ein besser finanziertes Gesundheitssystem zur Bekämpfung des Virus machen?

Da ist die schreckliche, aber aufschlussreiche Geschichte des Mitarbeiters der Miami Medical Device Company, der nach seiner Rückkehr aus China mit grippeähnlichen Symptomen das Richtige für seine Familie und seine Gemeinde tat und von einem örtlichen Krankenhaus verlangte, ihn auf Covid-19 zu testen. Er fürchtete, dass seine magere Krankenversicherung von Obama Care die Kosten für die Tests nicht abdecken würde. Er hatte Recht. Er hatte plötzlich eine Rechnung über 3.270 US-Dollar am Hals. Für die USA könnte eine Forderung lauten, eine Notverordnung zu verabschieden, wonach während des Ausbruchs einer Pandemie alle ärztlichen Rechnungen im Zusammenhang mit den Tests auf Infektion und für die Behandlung nach einem positiven Test von der Bundesregierung bezahlt werden müssen. Wir wollen die Menschen ermutigen, Hilfe zu suchen, anstatt sich zu verstecken – und andere anzustecken –, weil sie sich keine Behandlung leisten können. Die offensichtliche Lösung ist ein staatlicher Gesundheitsdienst, der für solche Notfälle personell und materiell ausreichend ausgestattet ist.

Sobald das Virus in einem Land entdeckt wird, reagieren die Regierungen überall mit autoritären Strafmaßnahmen, wie einer Quarantäne für ganze Landstriche und Städte. Sind solche drastischen Maßnahmen gerechtfertigt?

Die Nutzung der Coronakrise, um die neuesten autokratischen Kontrollmöglichkeiten zu testen, ist ein Kennzeichen des aus den Fugen geratenen Katastrophenkapitalismus. Im Hinblick auf die öffentliche Gesundheit halte ich mich lieber an Vertrauen und Mitgefühl, die wichtige Variablen bei einer Epidemie sind. Ohne beides verlieren die Regierungen die Unterstützung der Bevölkerung. Wir brauchen ein Gefühl der Solidarität und des gegenseitigen Respekts, um solche Bedrohungen gemeinsam zu überstehen. Selbstquarantäne mit geeigneter Unterstützung, ausgebildete Nachbarschaftshilfe, Lebensmittelwagen, die von Tür zu Tür fahren, Arbeitsbefreiung und Arbeitslosenversicherung – damit kann diese Art von Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugt werden, das wir benötigen.

Was wären nachhaltige Lösungen zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten?

Um das Ausbrechen neuer Virusinfektionen einzuschränken, muss die Nahrungsmittelproduktion radikal verändert werden. Die Unabhängigkeit der Landwirte und ein starker öffentlicher Sektor können den umweltbedingten Sperrklinkeneffekt und unkontrollierte Infektionen eindämmen. Dazu gehört auch die Förderung der Artenvielfalt bei Tieren und Pflanzen und einer strategischen Wiederaufforstung, sowohl auf der Ebene der landwirtschaftlichen Betriebe, als auch regional. Tiere müssen sich vor Ort fortpflanzen dürfen, um Immunitätsmechanismen weiterzugeben. Es geht darum, eine gerechte Produktion mit einem gerechten Warenkreislauf zu verbinden. Dazu gehört auch die Subventionierung der ökologischen Landwirtschaft und der Verkaufspreise sowie Programme für Verbraucher. Diese Projekte müssen vor den Zwängen, die die neoliberale Wirtschaft Einzelpersonen und Gemeinschaften gleichermaßen auferlegt, geschützt und gegen die Bedrohung durch die vom Kapital geleitete staatliche Unterdrückung verteidigt werden.

Was sollten Linke angesichts der zunehmenden Dynamik, die ein Krankheitsausbruch annehmen kann, fordern?

Die Agrarindustrie als Form der sozialen Reproduktion muss für immer abgeschafft werden, schon allein aus Gründen der allgemeinen Gesundheit. Die hoch industrialisierte Produktion von Nahrungsmitteln hängt von Praktiken ab, die die gesamte Menschheit gefährden und in diesem Fall dazu beitragen, eine neue tödliche Pandemie auszulösen. Wir sollten fordern, dass die Nahrungsmittelsysteme so verstaatlicht werden, dass solche gefährlichen Krankheitserreger erst gar nicht entstehen können. Dazu muss die Nahrungsmittelproduktion zunächst wieder in die Bedürfnisse der ländlichen Gemeinden integriert werden. Das wird agroökologische Praktiken erfordern, die die Umwelt und die Bäuerinnen und Bauern beim Anbau der Nahrungsmittel schützen. Der große Rahmen ist: Wir müssen den metabolischen Riss heilen, der unsere Ökologie von unserer Wirtschaft trennt. Kurz gesagt: Wir haben eine Welt zu gewinnen.

Link zum ganzen Artikel auf der Internetseite der Zeitschrift „marx21“:

Coronavirus: »Die Agrarindustrie würde Millionen Tote riskieren.«

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„Coronavirus: Viele Läden geschlossen“ – Stadt Crailsheim setzt verschärfte Vorgaben um

Die Stadtverwaltung hat am heutigen Mittwoch (18. März 2020) sämtliche Spiel-, Bolz- sowie Sportplätze abgesperrt. Alle Verwaltungsmitarbeiter wechseln in den Schichtbetrieb oder in das Home-Office. Der Koordinierungsstab hat strengere Regelungen für standesamtliche Hochzeiten sowie Bestattungen beschlossen. Zudem wurde der Definitionsbereich der systemrelevanten Berufe noch einmal erweitert.

Von der Stadtverwaltung Crailsheim

Versammlungsverbot verschärft

Am Mittwoch (18.03.2020) ist eine neue Rechtsverordnung „CoronaVO“ in Baden-Württemberg in Kraft getreten. In dieser wird unter anderem die Schließung von zahlreichen Geschäften des Einzelhandels, die nicht für den täglichen Bedarf notwendig sind, sowie eine Verschärfung des Versammlungsverbotes angeordnet. Die Stadtverwaltung hat bereits in den Morgenstunden begonnen, diese Verordnung umzusetzen. Mitarbeiter des Baubetriebshofes haben sämtliche der mehr als 100 öffentlichen Spiel- und Bolzplätze sowie frei zugängliche Sportstätten abgesperrt und verriegelt.

Öffentliche Toiletten geschlossen

Auch Öffentliche Toilettenanlagen sind seit Mittwoch geschlossen. Der Gemeindevollzugsdienst überprüft stichprobenartig die Einhaltung der Untersagung des Einzelhandels und weist bei möglichen Verstößen auf die neue Rechtsgrundlage hin. Die Mitarbeiter stießen dabei überwiegend auf Verständnis bei den betroffenen Geschäftstreibenden.

Auch kritische Infrastruktur: Regierung und Verwaltung

Die neue Rechtsverordnung listet zudem weitere Berufe auf beziehungsweise konkretisiert einzelne Berufsfelder, die zur kritischen Infrastruktur gezählt werden, und bei denen dort tätige Eltern einen Anspruch auf eine Notbetreuung haben. Zu den bereits bekannten werden demnach ab sofort auch Beschäftigte der Betreiber bzw. Unternehmen für den ÖPNV und den Schienenpersonenverkehr sowie Beschäftigte der lokalen Busunternehmen, sofern sie im Linienverkehr eingesetzt werden, das Personal der Straßenmeistereien und Straßenbetriebe, Regierung und Verwaltung, Parlament, Justiz-Abschiebungshaftvollzugseinrichtungen sowie Bestatter gezählt.

Eltern müssen Bescheinigungen vorlegen

Unverändert bleiben die Grundvoraussetzungen für die Inanspruchnahme der Notbetreuung. Demnach müssen beide Erziehungsberechtigte, im Fall von Alleinerziehenden der oder die Alleinerziehende, in Bereichen der kritischen Infrastruktur tätig sein. Arbeitet ein Erziehungsberechtigter im Bereich der kritischen Infrastruktur und ist der andere Erziehungsberichtigte aus zwingenden Gründen (z.B. schwere Erkrankung) nicht in der Lage die Betreuung zu übernehmen, kann nun ebenfalls die Notbetreuung durch die Stadt beansprucht werden. In diesem Fall ist eine Bescheinigung des behandelnden Arztes notwendig. Um die Betreuung in Anspruch nehmen zu können, müssen die Eltern einen entsprechenden Nachweis ihrer beruflichen oder ehrenamtlichen Tätigkeit im kritischen Infrastrukturbereich durch eine Arbeitgeberbescheinigung oder Bestätigung ihres Bereitschaftsleiters vorlegen.

Hochzeit nur noch im engsten Familienkreis

Ferner hat der Koordinierungsstab der Stadtverwaltung entschieden, dass standesamtliche Hochzeiten weiterhin stattfinden. Allerdings gelten hierfür nun strengere Regelungen. Demnach darf nur noch der engste Familienkreis teilnehmen, d.h. Verwandtschaft in gerader Linie. Die gleichen Vorgaben gelten für Beerdigungen, die bis auf weiteres nur noch im Freien durchgeführt werden dürfen.

Veranstaltungen bis 15. Juni 2020 untersagt

Veranstaltungen und Versammlungen sind grundsätzlich, egal in welcher Form oder Größe, bis zum 15. Juni 2020 untersagt. Davon betroffen sind sowohl die Gemeinderatssitzung in Crailsheim, als auch sämtlichen Ortschaftsratsitzungen, zu denen bereits eingeladen wurde.
Zudem hat der Koordinierungsstab beschlossen, dass die gesamte Stadtverwaltung ab dem kommenden Montag in den Schichtbetrieb, beziehungsweise ins Home-Office, wechselt. Dafür wurden die Arbeitszeitvorschriften entsprechend gelockert. Hierfür wird das Ziel, den Dienstbetrieb aufrechtzuerhalten und das Risiko einer Infizierung der Belegschaft zu minimieren, weiter konsequent verfolgt.

Längere Wartezeiten

Für die Bevölkerung haben diese Änderungen keine Auswirkungen. Es bleibt weiterhin gewährleistet, dass während der regulären Öffnungszeiten die Stadtverwaltung erreichbar ist. Aufgrund des erhöhten Telefonaufkommens kann es jedoch zu längeren Wartezeiten kommen.

Weitere Informationen und Kontakt:

Alle wichtigen Informationen sowie die komplette Rechtsverordnung im Wortlaut finden Interessierte auf der Internetseite der Stadtverwaltung Crailsheim: www.crailsheim.de

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