„Gescheiterte Globalisierung“ – Hintergrundbericht von Paul Steinhardt (Teil 2)

Bei der Diskussion zu dem Vortrag „Gescheiterte Globalisierung“ vor Kurzem in Schwäbisch Hall über deutsche Handelsbilanzüberschüsse wurde sehr kontrovers diskutiert. Das hat den Referenten Paul Steinhardt dazu bewogen, noch einmal eine ausführliche Erklärung nachzuschieben. Hohenlohe-ungefiltert veröffentlicht den vollständigen Text in zwei Teilen.

Hintergrundbericht von Paul Steinhardt (Teil 2)

Teil 2: Kritische Analysen zu Politik und Wirtschaft

Herausgeber: Heiner Flassbeck & Paul Steinhardt – Handelsungleichgewichte – Wie erklärt man das Problem? (Teil 2) von Paul Steinhardt | 9. August 2018

Problem für die Realwirtschaft

Handelsungleichgewichte gefährden nicht primär die globale Finanzstabilität und sind auf Dysfunktionalitäten der Kapitalmärkte zurückzuführen. Sie sind primär ein Problem für die Realwirtschaft und beruhen auf Lohnstückkostendivergenzen.
Bislang habe ich die wesentlichen Charakteristika real existierender Marktwirtschaften skizziert und darauf hingewiesen, dass Deflation eines der größten Probleme eines solchen Wirtschaftssystems ist. Eine positive Inflationsrate, so habe ich daraus gefolgert, ist eine der bedeutsamsten wirtschaftspolitischen Zielgrößen.
Da es zwischen der Inflation und der Entwicklung der Lohnstückkosten einen engen empirischen Zusammenhang gibt, der sich auch theoretisch erklären lässt, ist es zur Steuerung der Inflation erforderlich, dass in einem Währungsregime wie der EWU die Lohnstückkostenentwicklungen der einzelnen Mitgliedsländer koordiniert werden.
Betrachten wir die Entwicklung der Lohnstückkosten in Deutschland, Italien und Frankreich, wird deutlich, dass die erforderliche Lohnkoordination nicht erfolgte.

Was aber ist nun die Folge für die betreffenden Volkswirtschaften, wenn die Lohnstückkostenentwicklungen eklatant auseinanderlaufen?

Nun, da die Lohnstückkosten einen erheblichen Anteil der Gesamtkosten zur Herstellung eines Wirtschaftsguts ausmachen, wird derjenige mit den niedrigeren Lohnstückkosten die in seinem Land produzierten Güter im Ausland billiger anbieten können, als der mit den höheren Lohnstückkosten es kann. Deutschlands Unternehmen haben also gegenüber Frankreich und Italien seit der Einführung des Euros massiv an preislicher Wettbewerbsfähigkeit gewonnen. An preislicher Wettbewerbsfähigkeit konnte Deutschland gewinnen, weil dort die Löhne im Verhältnis zur Entwicklung der Produktivität weniger rasch gestiegen sind, als die Produktivität, wie die Grafik zeigt: www.makroskop.eu

Wie die beiden folgenden Grafiken belegen, ist man in Frankreich sehr viel weniger „erfolgreich“ gewesen als in Deutschland. Und Italien ist sogar hinter Frankreich geblieben.www.makroskop.eu

(Die alten Grafiken (Index 2000 = 100) wurden zur Verdeutlichung der Problematik noch einmal durch Abbildungen mit einem Index 1999 = 100 ersetzt, wobei darauf geachtet wurde, dass speziell bei der Abbildung von Italien der gleiche Indexmaßstab genutzt wird wie bei Deutschland und Frankreich)
Aber der deutsche „Erfolg“ ist es eine zweischneidige Sache. Nehmen wir an, es handle sich bei Deutschland um eine geschlossene Volkswirtschaft, es gäbe also das Ausland nicht. Steigt dann die Produktivität stärker als die Reallöhne, dann stellt sich die Frage, an wen die zusätzlich produzierten Waren denn nun verkauft werden sollen.
Klar ist, dass es bei einer Entwicklung von Reallöhnen und Produktivität wie in Deutschland nicht die Lohnempfänger sein können. Ein kleines Beispiel: Bislang seien Konsumgüter im Wert von 100 GE produziert worden, die Lohnempfänger hätten ein Einkommen von 110 GE erzielt und davon fürs Al- ter 10 GE auf die Seite gelegt. Und nun machte sich endlich die arbeitssparende Digitalisierung be- merkbar und mit der gleichen Anzahl von Arbeitskräften könne man Waren im Wert von 110 GE pro- duzieren. Wenn die Einkommen konstant bleiben und sich an der Sparneigung der Einkom- mensempfänger nichts ändert, dann bleiben Konsumgüterhersteller nach Adam Riese auf Waren im Wert von 10 GE sitzen.
Zur Lösung dieses Problems können in einer geschlossenen, vollständig marktwirtschaftlich organ- isierten Volkswirtschaft entweder nur der Staat oder die Unternehmen aus der Investitionsgüterin- dustrie beitragen. Der Staat könnte zum Beispiel überschüssige Güter ankaufen und kostenlos an seine Bürger verteilen. Oder aber es kommt zu einem sogenannten Strukturwandel. Die erhöhte Produktivität wird nicht dazu genutzt, mehr Konsumgüter, sondern mehr Investitionsgüter zu pro- duzieren. www.makroskop.eu

Wer aber kauft diese Güter, wenn wir den Staat einmal außen vorlassen? Infrage kommt nur die Kon- sumgüterindustrie. Die Konsumgüterindustrie wird aber diese Güter nur kaufen, wenn sie zusätzliche Güter verkaufen kann oder aber es ihr erlaubt, ihre Gesamtkosten weiter zu reduzieren. Gelingt jedem Unternehmen eine solche Kostenreduzierung, dann werden die Konsumenten aber noch weniger ver- fügbares Einkommen haben und damit noch weniger Konsumgüter erwerben können. Eine mögliche Lösung also, die in der Realität jedoch keine ist.
Die Marktwirtschaft ist schon ein seltsames System. Jedes einzelne Unternehmen, versucht seine Kosten und eben auch seine Lohnkosten zu reduzieren, um seine Gewinne zu erhöhen. Sind aber alle Unternehmen erfolgreich dabei die Löhne immer weiter zu kürzen, dann bricht das System zusammen – wenn der Staat die Nachfragelücke nicht schließt.
Glücklicherweise gibt es in der wirklichen Welt das Ausland, an die man die überschüssigen Waren verkaufen kann. Verkaufen aber kann man sie nur dann, wenn man international auch preislich wettbewerbsfähig ist.
Offensichtlich ist, dass nicht jeder immer wettbewerbsfähiger werden kann. „Wettbewerbsfähigkeit“ ist ein relationaler Begriff, der Form x ist wettbewerbsfähiger als y“. Gilt dieser Zusammenhang, dann kann begriffslogisch y seine Wettbewerbsfähigkeit gegenüber x nur verbessern, wenn sich die von x gegenüber y verschlechtert. Beide können also nicht gleichzeitig wettbewerbsfähiger werden.
Wer Wirtschaftswachstum will, gleichzeitig zulässt, dass die Reallöhne nicht mit der Produktivität steigen und auch staatliche Ausgaben nicht steigen lassen will, dem bleibt also nur der Export. Das ist der deutsche Mindset und daher verfolgt Deutschland eine exportorientierte Wachstumsstrategie. Kein Wunder, dass in Deutschland nahezu unisono auf alle Einschränkungen des sogenannten „freien Handels“ extrem allergisch reagiert und man nicht müde wird, das Mantra der Wettbewerbs- fähigkeit zu predigen.
Was ist zu erwarten, wenn ein Land gegenüber einem Land vergleichbarer Größe und mit vergleich- baren produktiven Kapazitäten an preislicher Wettbewerbsfähigkeit gewinnt und damit das andere verliert? Bei entwickelten, großen und so industrialisierten Ländern wie es Deutschland, Frankreich und Italien sind, steht zu erwarten, dass Unternehmen in den Ländern mit den höheren Produktion- skosten im In-und Ausland an Wettbewerbsfähigkeit verlieren werden. Verlieren sie aber an Wettbe- werbsfähigkeit, dann werden sie Marktanteile verlieren und in Folge ihre produktiven Kapazitäten ten- denziell abbauen. Wer Marktanteile gewinnt, wird sie dagegen tendenziell ausbauen.
Wie die folgende Grafik belegt, hat zwar auch Deutschland beim weltweiten Export seit dem Beginn der EWU an Marktanteilen verloren, relativ zu Frankreich und Italien jedoch gewonnen. www.makroskop.eu

Noch dramatischer stellt sich die Lage dar, wenn man sich die bilateralen Handelsbilanzen von Frankreich und Italien mit Deutschland betrachtet. www.makroskop.eu

Die bilateralen Handelsbilanzsalden besagen, dass die Franzosen beziehungsweise die Italiener mehr Güter von deutschen Unternehmen als umgekehrt Deutsche von den Unternehmen dieser Ländern er- werben. Das heißt aber, dass Frankreichs und Italiens Unternehmen mehr Güter produziertenkön- nten, wenn sie die von Deutschland importierten Güter selbst produzieren würden oder wenn Deutschland mehr Güter aus diesen Ländern importieren würde.
Der Rückgang der italienischen Handelsbilanzdefizite ist dabei leider kein Grund, Entwarnung zu geben. Er ist ein Nebeneffekt der Rezession, in der sich Italien seit Jahren befindet und sich daher im- mer weniger Importe leisten kann.
Deutschland wird inzwischen weltweit für seine exorbitanten Handelsüberschüsse kritisiert. So etwa kürzlich vom Chefvolkswirt des IWF,Maurice Obstfeld. Er macht sich Sorgen um die „globale Fi- nanzstabilität“, vergisst jedoch vollständig auf die jetzigen realwirtschaftlichen Probleme der Defiz- itländer hinzuweisen. Denn wenn gewinnorientierte Unternehmen permanent an Marktanteilen ver- lieren, werden sie produktive Kapazitäten abbauen. Das genau ist in Frankreich und Italien passiert, wie die beiden folgenden Grafiken belegen. www.makroskop.eu

Die Erfahrungen in der EWU machen mehr als deutlich, dass der „Freihandel“ zwischen Ländern, die faktisch in einem Festkurswechselsystem miteinander verbunden sind, jene mit den höheren Lohn- stückkosten aus dem Feld schlägt und nachhaltig schädigt. Klar aber dürfte auch sein, dass wenn alle Handelspartner versuchen, preislich wettbewerbsfähiger zu werden, dann jeder verlieren wird. Damit dies nicht passiert, muss die Lohnentwicklung der – wie wir sie nennen – goldenen Lohnregel folgen. Das heißt, die Löhne eines jeden Landes müssen mit der Zunahme der Produktivität plus der Zielinflationsrate steigen. www.makroskop.eu

Es braucht also entweder eine Lohnkoordination oder einen Mechanismus, der Inflationsdifferenzen ausgleicht, damit der grenzüberschreitende Handel zum Wohle aller führen kann. Eine Lohnkoordination in der EWU hat es bislang nicht gegeben und es gibt auch nicht die geringsten Anzeichen dafür, dass es sie geben wird. Die Devisenmärkte können diese Rolle, wie die Erfahrung lehrt, nicht übernehmen. Es bleibt damit nur die Lösung, dass eine Staatengemeinschaft die miteinander gedeihlich han- deln treiben will, ein entsprechendes Wechselkursregime installiert, das diese Aufgabe übernimmt. Gegenwärtig dürfte ein solches Regime politisch aber nicht realisierbar sein.
Damit bleibt aber nur eine Steuerung des Außenhandels durch den jeweiligen Staat, die sicherstellt, dass in einem bestimmten Land durch Prädatoren wie Deutschland die wirtschaftliche Zukunft nicht verspielt und eine wirtschaftliche Entwicklung erst ermöglicht wird. Für die EWU folgt daraus, dass es zum Ausstieg aus dem Eurosystem kaum eine Alternative gibt, wenn man die wirtschaftliche Entwicklung seines Landes vorantreiben will. Entwicklungsländer dagegen müssen eine Kombination aus kluger Öffnung und klugem Protektionismus finden, die es ihnen erlaubt, einen wettbewerbsfähigen Industriesektor aufzubauen und sich von allzu großen Abhängigkeiten von entwickelten Volkswirtschaften frei zu machen.

Staatsverschuldung – Menetekel oder Segen?

Diese Frage zu stellen, wird bei durch neoliberale Ökonomen programmierten Mitbürgern sofort mit einem heftigen Kopfschütteln beantwortet werden. Staatsschulden sind selbstverständlich immer als äußerst negativ zu beurteilen! Warum sonst hätte man sich im Vertrag von Maastricht auf eine maxi- male Staatschuldenquote von 60% des Bruttoinlandsprodukts geeinigt?
Während unter Volkswirten weitgehend Konsens herrscht, dass eine Schuldenquote über einem bes- timmten Schwellenwert problematisch ist, bleibt Uneinigkeit, wie genau dieser Wert zu beziffern ist. Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff haben in einer vielbeachteten Studie behauptet, dass sich em- pirisch belegen ließe, dass bei einer Staatschuldenquote von über 90% große Gefahr drohe. Damit aber wären, wie sich der folgenden Grafik entnehmen lässt, vier der zehn größten Volkswirtschaften in diesem Sinne überschuldet. www.makroskop.eu

Die Schuldenquote Japans gibt einem in diesem Zusammenhang besondere Rätsel auf. Während Griechenland schon bei einer Schuldenquote von 120 Prozent von der Troika und dem IWF „gerettet“ und im Gegenzug massiv privatisiert werden musste sowie tiefe Einschnitte ins Sozialsystem vorgenommen wurden, kommen aus Japan bei einer Schuldenquote von nahezu 250 Prozent des BIP keine solche Meldun- gen auf. Noch seltsamer ist aus neoklassischer Sicht, dass die Zinsen nicht – wie sich nach ihrer Theo- rie erwarten ließe – inzwischen extrem gestiegen sind, sondern weitgehend bei nahe Null verharren.
Noch bedrohlicher muss die Situation erscheinen, wenn, wie die folgende Grafik belegt, der Schwellen- wert von 60 Prozent aus dem Maastricht-Vertrag als adäquat erachtet wird.
Nur ein Land, nämlich China, erfüllt vollständig das Maastricht Kriterium. Deutschland und Indien sind so nahe an diesem Schwellenwert, dass ihnen auch deutsche Ökonomen eine sogenannte solide Finanzpolitik bescheinigen. www.makroskop.eu

Das BIP weiter zu steigern, aber gleichzeitig die Staatsverschuldung zurückzuführen, dürfte allerdings aufgrund eines relativ jungen Phänomens äußerst schwierig werden. Wie aus der folgenden Grafik er- sichtlich, spart inzwischen in der Mehrzahl der größten Volkswirtschaften auch der Unternehmenssektor.
Will man nicht, dass das BIP sinkt, dann ist es unabdingbar, dass der durch das Sparen von Haushal- ten und Unternehmen verursachte Nachfrageausfall kompensiert wird. Nach dem bislang Gesagten kommt für eine solche Kompensation nur der Staat oder das Ausland infrage. Wenn die Verschuldung des Auslands aber als Lösung ausgeschlossen werden muss, dann bleibt für die Funktion nur der Staat. Das aber heißt, dass sich der Staat – alleine um eine Rezession zu verhindern – in der Höhe der Ersparnisse des gesamten Privatsektors jedes Jahr zusätzlich verschulden muss.
Aber ist das nicht unmöglich? Woher soll denn der Staat das viele Geld nehmen? An dieser Stelle ist zu fragen, woher denn EZB-Chef Mario Draghi das viele Geld genommen hat, um seine Anleihekäufe in Höhe von inzwischen 2,6 Billionen Euro zu refinanzieren? Die für viele wohl schockierende Wahrheit ist: er musste sich bei gar niemandem refinanzieren. Er hat die Wertpapiere durch einen einfachen Buchungssatz der Form „Wertpapiere an Zentralbankgeld“ bezahlt.
Zauberei? Nein. Eine jede Staatengemeinschaft oder ein jeder Staat, der eine Zentralbank hat, die bereit ist, seine Ausgaben jederzeit zu refinanzieren, hat diese Fähigkeit. Nur wenn man eine Zentral- bank so unabhängig ausgestaltet hat, dass sie das auch dann nicht tun muss, wenn eine Volkswirtschaft aufgrund der Sparbemühungen des Privatsektors unweigerlich in eine Rezession rutscht, muss sich mit Massenarbeitslosigkeit und der Zerstörung des Wohlfahrtsstaats abfinden.
Wer das nicht will, so kann man mit Bezug auf Abba Lerner sagen, muss sich vom Konzept der soliden Fiskalpolitik verabschieden und für eine funktionale Fiskalpolitik plädieren. Anstatt auf sinnlose Defizit- und Schuldengrenzen zu fokussieren, verlangt eine solche Fiskalpolitik, dass der Staat seine Fähigkeit der Geldschöpfung so einsetzt, dass Vollbeschäftigung erreicht wird und dergestalt begrenzt, dass unerwünscht hohe Inflationsraten vermieden werden.
Wer gegen eine solche Steuerung einer Marktwirtschaft durch staatliche Organisationen Einwände er- hebt, müsste nach Lerner auch gegen Lenkräder in einem Auto argumentieren:
„Denken Sie nur daran, wie viel Raum es wegnehmen würde. Ein Vordersitz wäre dann kaum noch möglich. Ein Lenkrad ist zudem schlimmer als ein altmodischer Schalthebel und zudem noch gefährlich. Und außerdem sind wir Verfechter der Demokratie und werden niemandem die alleinige Gewalt über Leben und Tod aller Insassen geben. Das wäre Diktatur.“
Das Konzept der funktionalen Fiskalpolitik erfordert natürlich, sich von alten Denkgewohnheiten zu verabschieden. Das scheint jedoch ein sehr kleiner Preis zu sein, wenn man sieht, wie viele junge Menschen in Europa durch eine ideologisch motivierte Wirtschaftspolitik der Möglichkeit beraubt wurden und werden, einer sinnstiftenden und sie materiell absichernden Arbeit nachzugehen. www.makroskop.eu

Erschienen im Internet auf der Seite:

https://makroskop.eu/2018/08/handelsungleichgewichte-wie-erklaert-man-das-problem-2/

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