„Stuttgart 21 wackelt – aber fällt (noch) nicht“ – Es gibt rechtliche Möglichkeiten, das gesamte Projekt zu stoppen

Die Gegner von Stuttgart 21 hatten schon vor der Volksabstimmung errechnet, dass Stuttgart 21 viel teurer werden würde als offiziell veranschlagt. Die Betreiber hatten das immer bestritten.

Kommentar von Paul Michel aus Schwäbisch Hall

Der Tiefbahnhof ist ein Fass ohne Boden

Jetzt ist die Katze aus dem Sack: Der Kostendeckel von 4,52 Milliarden Euro wird gesprengt – und zwar deutlich. Laut einem McKinsey-Gutachten, das im Auftrag des Aufsichtsrats der Bahn erstellt wurde, steigen die Kosten für Stuttgart 21 auf 6,8 Milliarden Euro. Und das für einen Bahnhof, der deutlich weniger leistungsfähig ist als der aktuelle Kopfbahnhof. Stuttgart 21 ist bereits jetzt, bevor richtig mit dem Bau begonnen wurde, auf dem besten Weg, den Berliner Flughafen und die Hamburger Elbphilharmonie als Fass ohne Boden zu toppen.

Nicht mehr rentabel

Nach rationalen Überlegungen müsste Stuttgart 21 sofort beerdigt werden. S21 hat mittlerweile die noch vor einem Jahr von Bahnchef Grube benannte Rentabilitätslatte von 4,7 Milliarden Euro eindeutig gerissen. Aber bei der Bahn und der Bundesregierung haben Machtfragen mittlerweile sogar noch Vorrang vor Profiterwägungen. Im September 2011 hatte Kanzlerin Angela Merkel das Projekt zur Nagelprobe für die Durchsetzbarkeit von Großprojekten gemacht, indem sie erklärte, an S21 „entscheide sich die Zukunftsfähigkeit Deutschlands.“

Bei der Bahn werden die Bruchstellen sichtbar

Bahnchef Rüdiger Grübe tönt zwar: „Wir stehen zu Stuttgart 21…Wir werden diesen Bahnhof bauen.“ Dennoch werden auch bei der Bahn jetzt die Bruchstellen sichtbar. Auf der Aufsichtsratssitzung vom 12. Dezember 2012 wurde die Vorstandsvorlage zu Stuttgart 21 nicht – wie üblich – nach kurzer Aussprache durchgewunken. Die Entscheidung darüber wurde auf die nächste Aufsichtsratssitzung verschoben. Es soll, so berichtet die „Welt“, Verärgerung darüber gegeben haben, dass die Bahn den Aufsichtsrat „über diese uns überraschende Kostenexplosion in Form einer Tischvorlage“ informiert habe. Eine Vorbereitung im Detail sei nicht möglich gewesen. Laut „Welt“ hat der Aufsichtsrat einen unabhängigen Gutachter beauftragt, der den Fortgang des Projekts aus aktienrechtlicher Sicht überprüfen soll. Entscheidend wird wohl sein, ob es Technikvorstand Volker Kefer in dieser Zeit gelingt, das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart an die Kandare zu nehmen. Kefers Strategie ist klar. Einerseits gibt er sich großzügig, indem er erklärt, die Bahn werde 1,2 Milliarden Euro Mehrkosten selbst übernehmen. Andrerseits will er über die Einforderung der „Sprechklausel“ 1) Land Baden-Württemberg und Stadt Stuttgart dazu zwingen, den eigenen Anteil deutlich aufzustocken. Gelingt ihm das bis zur nächsten Aufsichtsratssitzung im Januar 2013, bekommt er vom Aufsichtsrat grünes Licht. Gelingt es ihm nicht, wird es eng für Kefer und für Stuttgart 21.

In die ewigen Jagdgründe mit Stuttgart 21

Es liegt nun in der Hand der grün-roten Landesregierung, das unselige Projekt dahin zu befördern, wo es hin gehört: In die ewigen Jagdgründe. Wenn sich Ministerpräsident Kretschmann und Finanzminister Schmid an die Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag halten und die Reißleine ziehen, sprich sich weigern, weitere Landesgelder in Stuttgart 21 rein zuschießen, könnte Grubes Projekt alsbald in die Grube fahren. Aber der grüne Oberrealo Kretschmann zögert immer noch. Am Tag vor der Vorstandsitzung der Bahn ließ er seine (grüne) Staatssekretärin Gisela Erler noch einmal verkünden: Wir fühlen uns an das Ergebnis der Volksabstimmung gebunden. Dabei hat selbst der juristische Architekt der Volksabstimmung, der Rechtswissenschaftler Joachim Wieland, bestätigt, dass auch nach bürgerlichem Rechtsverständnis das Ergebnis der Volksabstimmung nicht mehr bindend ist, da es unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zustande gekommen ist. In dieser Situation kommt es darauf an, dass die Bewegung gegen Stuttgart 21 dem zögernden grünen Landesvater noch einmal richtig Druck macht.

Offener Brief von Sabine Leidig, Volker Lösch und Walter Sittler an Winfried Kretschmann, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg und Fritz Kuhn, designierter Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Stuttgart:

Sehr geehrte Herren,

bekanntlich lautet die in Sachen Stuttgart 21 am meisten verbreitete Parole: LÜGENPACK. Die am 12. Dezember 2012 seitens der Deutschen Bahn AG bekannt gegebenen neuen Zahlen zu den tatsächlichen Kosten von Stuttgart 21 werden dazu beitragen, dass diese Losung nochmals populärer wird. Damit wird bei aktuellem Stand das Projekt Stuttgart 21 drei Mal teurer als 1995 geplant, zwei Mal teurer als 2008 gerechnet und immer noch 50 Prozent kostspieliger als bei der Volksabstimmung vom 27. November 2011 als „Obergrenze“ vorgegeben.

Kritiker fordern Einstellung des Projekts

Nun müssen wir uns nicht darüber unterhalten, dass Kenner der Materie, darunter die Projekt-Gegnerinnen und -Gegner von Bündnis 90/Die Grünen, vergleichbare Kostensteigerungen vorausgesagt haben. Auch waren die Reaktionen von Bundesregierung und der Deutschen Bahn AG absehbar: Hier lautet die Devise: „Augen zu und durch“. Und zu Recht werden als Hauptadressaten der S21-Kritik die Bundesregierung und die DeutschenBahn AG genannt – und von diesen die sofortige Einstellung des gesamten Projekts gefordert.

»Grüne Spitzenpolitiker müssen und können jetzt S21 stoppen!«

Nun sind Bündnis90/Die Grünen in Sachen Stuttgart 21 nicht mehr ausschließlich Opposition. Sie stellen den Ministerpräsidenten, den Verkehrsminister des Landes und den Oberbürgermeister der Landeshauptstadt. Sie alle drei verstehen sich als Gegner von Stuttgart 21. Sie haben sich in jüngerer Zeit bei Ihrer Kritik an Stuttgart 21 zurückgehalten unter Verweis auf die Volksabstimmung vom 27. November 2011. »Grüne Spitzenpolitiker müssen und können jetzt S21 stoppen!«

Deutliche Verringerung der Bahnhofskapazität

Ganz unabhängig davon, wie man dies in diesen vergangenen zwölfeinhalb Monaten sah, so ist jetzt in den vergangenen drei Wochen durch zwei Ereignisse doch eine grundlegend neue Situation eingetreten. Erstens kam es zu der bekannten Kostenexplosion. Zweitens gibt es den juristisch hieb- und stichfesten Beweis dafür, dass S21 eine deutliche Verringerung der Bahnhofskapazität mit sich bringt.

Volksabstimmung und Kostenexplosion

Ein Verweis auf die Volksabstimmung ist spätestens seit dem 12. Dezember 2012 unglaubwürdig. Wenn Sie, Herr Hermann, argumentieren, „die Frage nach dem Ausstieg stellt sich nach der Volksabstimmung trotz Mehrkosten nicht“ (WAZ vom 12.12.2012), dann widersprechen wir dem deutlich. In der Broschüre der Landesregierung zur Volksabstimmung hieß es, die Landesregierung habe „die zwischen den Projektparteien vereinbarten Kosten von 4,526 Milliarden Euro als Obergrenze der vom Land mitgetragenen Kosten festgelegt“.

Spitzfindigkeiten von Staatsrätin Gisela Erler

Die Bürgerinnen und Bürger stimmten am 27. November 2011 im Bewusstsein ab, dass dies definitiv die Obergrenze der Gesamtkosten sein würde. In derselben Broschüre verwies der Koalitionspartner SPD – als Argument, mit „Nein“ (oder für S21) zu stimmen – darauf, dass „drei unabhängige Wirtschaftsprüfungsgesellschaften diese Kalkulation bestätigt“ hätten und dass es „bis heute keinerlei Belege dafür (gibt), dass der Kostenrahmen für S21 nicht ausreichend bemessen wäre.“ Wer jetzt mit Spitzfindigkeiten kommt und, wie Frau Staatsrätin Gisela Erler, argumentiert, die Bürgerinnen und Bürger wären implizit von weiteren Kostensteigerungen und stichfesten Beweis dafür, dass S21 eine deutliche Verringerung der Bahnhofskapazität mit sich bringt, sagt schlicht die Unwahrheit.

Beruhigungspille der Bahn

Die Beruhigungspille, die Bahn werde ja die Mehrkosten zahlen, ist in dreifacher Hinsicht nicht akzeptabel: Erstens, weil die Deutsche Bahn AG dieses Geld immer irgendwoher nehmen wird – beispielsweise, indem die Ticketpreise weiter ansteigen, indem die Infrastruktur noch mehr verfällt, indem noch weniger in den Lärmschutz im Rheintal investiert oder indem die Elektrifizierung der Südbahn noch später in Angriff genommen wird. Zweitens, weil die Bahn faktisch nur die Hälfte der bekannt gewordenen Mehrkosten übernimmt. Wer für die zweite Hälfte, mehr als eine Milliarde Euro auf Basis des McKinsey-Gutachtens, aufkommt, ist offen. Jeder weiß, dass sich das Land und die Stadt irgendwann – vor allem, wenn die Baufortschritte groß genug sind –nicht mehr weigern können, bei weiteren Kostensteigerungen einzuspringen. Drittens weil alle Mehrkosten letzten Ende ein Mehr an öffentlichen Ausgaben sind, die anderswo – in der Bildung, bei der Energiewende usw. – fehlen.

Nicht die blanke Unmoral predigen

Jeder weiß, dass sich das Land und die Stadt irgendwann – vor allem, wenn die Baufortschritte groß genug sind – nicht mehr weigern können, zusätzliche Kosten zu übernehmen. Drittens weil alle Mehrkosten ein Plus an Steuerausgaben sind. Hier darauf zu verweisen, das seien keine Landes- oder keine städtischen Mittel, heißt, das St.Florians-Prinzip oder die blanke Unmoral zu predigen.

Kündigungsrecht ist gegeben

Bilanz: Die Grundlagen für die Volksabstimmungen wurden einseitig verletzt – sie sind nicht mehr gegeben. Es gilt, was die Landesregierung in die Begründung ihres Gesetzestext „über die Ausübung von Kündigungsrechten bei (…) Stuttgart 21“ hineinschrieb: Bei  Kostensteigerungen, die nicht „in vollem Umfang von der Deutschen Bahn AG finanziert“ werden, sei „dem Land ein Festhalten an dem (S21-) Vertrag nicht zumutbar und ein Kündigungsrecht nach §60 Abs. 1 Satz 1 Landesverwaltungsverfahrensgesetz (LVwVfG) gegeben“.

Kapazitätsabbau

Die These, wonach Stuttgart 21 mit einem Kapazitätsabbau verbunden ist, wird seit der Schlichtung im Sommer 2010 diskutiert. Für diese These gibt es immer bessere und inzwischen unwiderlegbare Beweise. Es gibt die Dokumentationen der früheren realen Kapazität des Kopfbahnhofs, die deutlich über dem Maximum dessen liegt, was S21 laut Deutsche Bahn AG würde leisten können. Seitens Wikileaks und Dr. Engelhardt wurde umfänglich dargestellt, dass und wie beim sogenannten Stresstest 2011 manipuliert wurde.

32 bis 35 Gleisbewegungen in der Spitzenstunde

Es gibt des weiteren nirgendwo auf der Welt einen Durchgangsbahnhof mit acht Gleisen, der auch nur annähernd auf die von der Bahn behauptete Leistung in der Spitzenstunde kommt. Und es gibt schließlich die Dokumente zu der Personenstromanalyse , bei der nachweislich von 32 bis 35 Gleisbewegungen in der Spitzenstunde – und damit von einem Kapazitätsabbau gegenüber der bisherigen Spitzenstunden-Leistung – ausgegangen wird.

Damit ist S21 ein Schwarzbau und Subventionsbetrug

Bilanz: Damit ist S21 ein Schwarzbau. Nach § 11 Allgemeines Eisenbahn-Gesetz (AEG) muss eine „mehr als geringfügige“ Kapazitätsverringerung beantragt und vom Eisenbahnbundesamt genehmigt werden. Einen solchen Antrag gab es nie. Einem solchen Antrag könnte auch gar nicht stattgegeben werden, u.a. da S21 mit EU-Geldern in Höhe von 114 Millionen Euro kofinanziert wird. Die Begründung bei der Beantragung dieser Kofinanzierung lautete, der Bau von S21 habe eine „verdoppelte Leistungsfähigkeit“ des Bahnknotens Stuttgart zur Folge. So nebenbei gibt es hier also auch noch den Tatbestand des Subventionsbetrugs. Übrigens: Vor wenigen Tagen wurde auf der Website der EU für die TEN-Projekte (www.tentea) die Formulierung klammheimlich herausgenommen, wonach S21 und Neubaustrecke „are expected to double the stations capacity.“

Sehr geehrter Herr Kretschmann, sehr geehrter Herr Hermann, sehr geehrter Herr Kuhn,

es gibt für Sie – neben fehlendem Brandschutz, neben nicht genehmigter Grundwasserentnahme in doppelt so hoher Höhe wie geplant, neben einem nach europäischem Recht nicht zulässigen und europaweit einmaligen Gleisgefälle im Tiefbahnhof, neben noch nicht vorliegenden Planfeststellungen für wichtige Bauabschnitte und neben anderem mehr – zumindest zwei handfeste, juristisch abgesicherte Möglichkeiten, S21 zu stoppen: die Verweise auf den gesprengten Kostendeckel und den Kapazitätsabbau.

Politiker müssen Schaden abwenden

Wir fordern Sie dazu auf, in diesem Sinn umgehend aktiv zu werden, um gemäß Landesverfassung Artikel 45 „dem Wohl des Volkes zu dienen und (…) Schaden von ihm abzuwehren“. Wir fordern Sie dazu auf, in Verhandlungen mit der DB AG zu treten mit dem Ziel, S21 definitiv zu stoppen, um gemäß Landesverfassung Artikel 45 weiteren “Schadenvom Volk abzuwehren“. Doch lassen wir mal die Juristerei beiseite: Was sollen die Menschen im Land von Politikern denken, die tatenlos zusehen, wie sich das Projekt S21 zu einem unsäglich großen Fass ohne Boden mit der Versenkung von immer neuen Steuermilliarden entwickelt – und man dann nach zwölfjähriger Bauzeit einen Bahnhof mit deutlich geringerer Leistungsfähigkeit erhält?

Mit freundlichen Oben-bleiben-Grüßen

Sabine Leidig, MdB, verkehrspolitische Sprecherin der LINKEN im Bundestag

Volker Lösch, Regisseur

Walter Sittler, Schauspieler

Impressum / V.i.S.d.P.: Tom Adler, Stuttgart

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